Juden in Frankfurt

Das Gumpertz‘sche Siechenhaus

Für Menschen mit Behinderung und chronischen Leiden hatten die Frankfurter Juden Ende des 19. Jahrhunderts das Gumpertz‘sche Siechenhaus eingerichtet. Birgit Seemann und Edgar Bönisch haben die Geschichte dieser Wohlfahrtseinrichtung in einem 260 Seiten starken Buch nachgezeichnet. Es ist zugleich eine Geschichte jüdischen Zusammenlebens und Mäzenatentums in der Main-Metropole. Das Buch gibt einen anschaulichen Einblick in das Sozialleben der drittgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands jener Zeit.

Ein Asyl für Gebrechliche

Der Charakter der Siechenhäuser hatte sich seit dem Mittelalter grundlegend geändert. Einst waren sie Seuchenspitäler, in denen die Kranken abgesondert wurden. Sie dem 19. Jahrhundert wurden sie jedoch zu „eine Auffangstation (‚Asyl‘) für Menschen mit Behinderungen, Gebrechen und chronischen Leiden: Deren Versorgung war durch die Auflösung familiärer und nachbarschaftlicher Netzwerke .- eine Folge der Massenabwanderung junger Arbeitskräfte in die Städte oder nach Amerika – akut gefährdet“, schreiben Seemann und Bönisch.

Gustchen gehörte zu den frühen Bewohnerinnen des Gumpertz‘schen Siechenhauses. Sie war ein einfaches Mädchen, „das infolge einer im Kopf befindlichen Geschwulst fast erblindet war. Für die Welt war die Kranke abgetan“, berichtet der Verwalter des Siechenhauses Hermann Seckbach in seinem 1918 erschienen Büchlein „Das Glück im Hause des Leids“ und fährt fort, im Gumpertz‘schen Haus sei Gustchen aufgeblüht, „unser rotbäckiges, prächtiges Mädel wurde lustig und fidel, umgeben von 60 anderen Leidensgenossen war sie, die Blinde, ein Lichtblick“. Betty Gumpertz hatte das Pflegeheim gestiftet, eine fromme Jüdin aus der Nähe von Worms, die den Frankfurter Kaufmann Leopold Herz Gumpertz geheiratet hatte. Mit 60 Jahren wurde sie 1884 Witwe. Ihr erst sechsjähriger Sohn war bereits 1871 gestorben. 1888 gründete die wohlhabende Kaufmannswitwe zum Andenken an Ehemann und Sohn das Siechenhaus. Frankfurt war schon immer „für das jüdische Mäzenatentum bekannt. Viele Institutionen der Stadt Frankfurt wurden über Jahrzehnte von von jüdischen Frankfurter Bürgerinnen und Bürgern teilweise oder vollständig finanziert“, schreibt Leo Latasch, Dezernent für Soziales der Jüdischen Gemeinde Frankfurt in seinem Grußwort für das Buch.

Personal und Patienten des Gumpertz’schen Siechenhauses 1918

Im Frankfurter Ostend hatten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts jüdische Wohlfahrtseinrichtungen angesiedelt, berichten Seemann und Bönisch. Eine Suppenanstalt für jüdische Wohlfahrtsbedürftige in der Theobaldstraße, ein Waisenhaus für jüdische Jungen und eines für Mädchen und der Israelitische Kindergarten. Das Gumpertz‘sche Siechenhaus war stark gefragt. Es startete mit sechs Betten, wurde bald auf 20 Betten erweitert. Dennoch konnten 1895 von 27 Angemeldeten nur 13 aufgenommen werden. 1899 zog das Siechenhaus ins Hinterhaus Röderbergweg 62-64, zunächst mit bis zu 30 Plätzen. 1906 wurde das neue Vorderhaus, „ein stattliches, langgestrecktes Gebäude“, mit 60, später bis zu 90 Bettgen, bezogen.

Fortschrittlicher Ansatz

Die Pflegeanstalt war etwas besonderen, wie die Autoren des Buches feststellen: „Der für seine Zeit fortschrittliche Gumpertz‘sche Ansatz, den Gepflegten keine bloße Verwahranstalt anzubieten, sondern ihre Selbständigkeit und Autonomie so weit wie möglich zu fördern, eröffnete den Bewohnerinnen und Bewohnern eigene Gestaltungsräume.“ Während des Ersten Weltkrieges wurde die komplette erste Etage des mit Operationsräumen ausgestatteten Vorderhauses zu einem Lazarett mit 40 Betten für Offiziere und Mannschaften. Von 1916 bis 1918 wurden hier 671 Soldaten behandelt. Das interessierte die Nazis später wenig: sie drangsalierten das Heim und schlossen es schließlich. Der Verwalter Hermann Seckbach musste 1938 ins Exil nach England gehen, weil er nichtjüdisches weibliches Personal beschäftigt hatte.Bereits 1933 war ins Vorderhaus die SA-Feldjägerei einquartiert worden. Durch einen eigenen Zugang vom Danziger platz aus zum Hinterhaus konnten Verwaltung, Personal, Bewohner und Besucher der direkten Konfrontation mit den Nazis zunächst vermeiden. Das Siechenhaus wurde nach und nach zur Zufluchtsstätte vorwiegend für „alleinstehende oder von NS-Verfolgten Angehörigen notgedrungen zurückgelassene gebrechliche, chronich kranke und körperbehinderte Menschen, viele höheren Alters. Sie kamen aus Hessen, Baden, Württemberg oder Bayern (Unterfranken) nach Frankfurt. Fluchtversuche aus Nazideutschland scheiterten häufig an den auf gesunde und leistungsfähige Migrantinnen und Migranten hin ausgerichteten restriktiven Einwanderungsregeln der Aufnahmeländer“, schreiben Seemann und Bönisch.

Engel in Menschengestalt

Rahel Seckbach war die letzte Oberin des Siechenhauses, bis die Bewohner und das Personal ins KZ Theresienstadt deportiert wurden. Den Tag der Räumung der Gumpertz‘schen Hauses beschreiben die Autoren so: „Der 7. April 1941 war ein Montag. Lediglich 24 Stunden Zeit gewährten die NS-Behörden der Oberin und ihrem Team, das Hinterhaus zu räumen und die Verlegung der teils bettlägrigen 46 Gepflegten zu organisieren. Ziel war das als Sammellager vor der Deportation missbrauchte letzte Frankfurter jüdische Krankenhaus in der Gagernstraße 36. (…) Viele ihrer Gepflegten erlagen den Strapazen des brutal erzwungenen Ortswechsels, andere nahmen sich aus Verzweiflung das Leben. Die Überlebenden wurden am 18. August 1942 nach Theresienstadt deportiert.“ Von den an diesem Tag nach Theresienstadt verschleppten 1022 jüdischen Frankfurtern erlebten nur 17 die Befreiung. Leopold Nehaus, Mithäftling von Rahel Seckbach, und bis zu seiner Auswanderung 1946 erster Rabiner der Frankfurter jüdischen Nachkriegsgemeinde, schrieb in seinem Nachruf auf Rahel Seckbach, die das Lager knapp überlebt hatte und am 4. September 1949 mit 72 Jahren in England gestorben war: „Was diese wunderbare Frau als langjährige Leiterin des Jüdischen Siechenheims in Frankfurt a.M. geleistet hat, ist allen Frankfurtern bekannt. Sie hat die Ärmsten der Armen, die hilflosen Sieche, die jahrelang ans Bett gefesselt waren, so betreut, dass sie ein Engel in Menschengestalt genannt werden kann.“

Das Pflegeteam um 1938

Mit dem Ende des Siechenhauses Endet für Seemann und Bönisch noch nicht die Geschiche des Gumpertz‘schen Hauses. Sie beschreiben, was dort nach dem Krieg gescha: die Vereinigung der Verfolgten der Nationalsozialismus (VVN) mit ihrem Röderbergverlag zog ein, Künstler ließen sich hier nieder, ein Kinderladen … Um 1980 wurde das Vorderhaus für einen Erweiterungsbau des Alten- und Pflegeheims der Arbeiterwohlfahrt (Awo) abgerissen. Im Sommer 2015 wurde vor dem Awo-Pflegeheim eine Gedenktafel für das Gumpertz‘sche Siechenhaus angebracht.

Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) freut sich über das Buch, wie er in seinem Grußwort schreibt, weil „ein bisher völlig unbekannter, aber hinsichtlich des jüdischen Frankfurts mehr als interessanter Ausschnitt der Geschichte vorgestellt wird“. Und es ist mehr als Frankfurter Lokalgeschichte: Es ist ein tiefer Einblick in das Sozialleben der damals drittgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands.

Birgit Seemann/Edgar Bönisch: „Das Gumpertz‘sche Siechenhaus – ein ‚Jewish Place‘ in Frankfut am Main. Geschichte und Geschichten einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung.“ Verlag Brandes & Apsel, 260 Seiten, Format 15,5 x 23,5 cm, zahlreiche Fotos, 29,90 Euro, ISBN 978-3-95558-253-1

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