Eine kurze Affäre
Die Boheme in Paris Ende der 1920er Jahre? Der früh verstorbene Schweizer Maler Andreas Walser? Der vergessene Friedberger Schriftsteller Albert H. Rausch (alias Henry Benrath)? Ein kleines, feines Büchlein beschreibt die kurze, aufwühlende Affäre der beiden Künstler im brodelnden Klima der Künstlerszene im Paris jener Zeit. „Nur das eine, furchtbare – Andreas ist tot“ heißt es. Geschrieben hat es der Friedberger Autor Andrej Seuss.Paris im Rausch
„Paris ist nicht nur die Kunst-Metropole der Moderne, sondern auch extrem freizügig: Die Varietés des Montmartre, das Moulin Rouge oder das Pigalle-Viertel, die vielen Tanzbars, Travestie-Shows und Nackttanz-Aufführungen in den Music-Halls bieten jeden Abend Unterhaltung. Es wird ausgiebig und sexuell freizügig gefeiert – wer es sich leisten kann. Auf den beliebten Kostümfesten spielt man mit den Geschlechterrollen – Homosexualität wird zumindest toleriert. Paris feiert den Rausch (kein Wortspiel!), Morphium gibt es frei verkäuflich in der Apotheke, Kokain ist der Wachmacher, Alkohol selbstverständlich“. So beschreibt Seuss die Stadt, in der es zu der folgenreichen Begegnung zwischen dem Maler und dem Schriftsteller kommt: „Am Abend des 29. Januars trifft Albert H. Rausch, der immerhin schon fast 47 Jahre alt ist, auf den derst 20-jährigen Andreas Walser in dem vielleicht berühmtesten aller Künstler-Cafés, dem Café du Dome. Sie sind sofort voneinander tief beeindruckt.“
Walser taucht tief ein die Pariser Künstlerszene, gehört zur Clique um Jean Cocteau und sucht die Nähe zu Pablo Picasso. Cocteau, Dichter, Filmregisseur und Grafiker, erhebt „Rauschmittel , vor allem Opium, zum nötigen Mittel der künstlerischen Produktion“, so Seuss. Walser stirbt beinahe an einer Überdosis. Rausch wendet sich in einem Brief an die Eltern, einem Pfarrerehepaar in der kleinen Schweizer Stadt Chur. Walser ist empört über dieses Schreiben. „durch drohungen erreicht niemand etwas bei mir – u. es tut mir so leid, dass auch du mir so gegenüber trittst – schau ich liebte dich immer u. aufrichtig – u. habe selten das werk eines künstlers so geliebt wie deines – u. das alles soll ich verlieren, weil du mich so seltsam behandelst – ich bin doch aus anderem holz geschnitten als du dir denkst“, heißt es in einem in dem Buch abgedruckten Brief von Walser an Rausch vom 17. Juni 1929.
Das Holz, aus dem sich Walser geschnitten sah, war aber nicht hart genug für dieses Leben. Der junge Maler stirbt wenige Monate nach diesem Schreiben, am 19. März 1930, in einer Pariser Klinik, laut Seuss „unter nicht ganz geklärten Umständen“.
Surreal, dadaistisch, abstrakt
Walsers Werk hat überdauert. In seinen Bildern hat er „experimentierend kubistische, surrealistische, dadaistische und abstrakte Einflüsse“ verarbeitet, schreibt Vera Kappeler in ihrem Vorwort zu dem Buch. Sie ist Kuratorin der Ausstellung „Andreas Walser/und jetzt – gehe ich“ 2017 im Bündener Kunstmuseum Chur.
Rausch dagegen ist nahezu vergessen. Seine Werke, „antiquiert und ästhetisch wenig ansprechend“, mag heute kaum noch jemand lesen. In seiner Heimatstadt Friedberg erinnert man sich an ihn weniger als Schriftsteller sonder mehr, weil er ein italienisches Bergdorf, in dem er sich niedergelassen hatte, 1943 vor einem Vergeltungsschlag der Nazis gerettet haben soll.
Nun wird Rausch durch seine Beziehung zu Walser wieder interessant. In einer Zeit, in der Homosexualität unter Strafe stand, auch in Frankreich, bekannte sich der Friedberger Schriftsteller offen dazu. Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann, notierte nach einem Treffen mit Rausch am 10. Februar 1932 in sein Tagebuch: „Bis gegen 4 h morgens im Select gesessen. Endlose Gespräche. Rausch, in seiner Art eindrucksvoll; übrigens in seiner dogmatischen Art oft an Sternheim (gemeint ist vermutlich der Dramatiker Carl Sternheim – d.Red) erinnernd. Merkwürdig halb-bedeutend; fast grosse Andeutungen – dann: nicht genügend Persönlichkeit. Feuriges Bekenntnis zur Homosexualität.“
Ein delikates, kompliziertes Gebiet
Nach Walsers Tod schreibt Rausch einen Brief an die Eltern und geht darin auf die Homosexualität ein: „Über die intimsten sexuellen Dinge aber in einem Menschen nachzuforschen geziemt niemaden. Weder Eltern noch Freunden. Und wo – auf diesem delikatesten und kompliziertesten Gebiet – ein Mensch sich nicht spontan anvertraut, hat jede Nachfrage und Nachforschung zu verstummen. Halten wir doch gerade hier das Andenken von Andreas von jeder völlig vergeblichen Sondierung frei. Wie immer seine Anlage gewesen sein mag: es ist und bleibt absolut belanglos für seinen wahren Wert und seine wahre Bewertung.“
Seuss lässt Walser und Rausch mit ihren Briefen ausführlich zu Wort kommen und Rausch noch mit späteren Lebenserinnerungen, der „Pariser Elegie“ und dem „Requiem“, die überschrieben sind mit „In Memoriam Andreas Walser“. So ist es kein Buch über die beiden Künstler, sondern gleichsam eines mit ihnen. Es lässt die Leser, „an einer emotionsgeladenen Begegnung zweier homosexueller Männer teilhaben, die sich scheinbar zufällig im Großstadtgetümmel fanden – beide mit einem Hang zum Entrücken, zur totalen Hingabe, zum Genialischen und zur Romantik“, schreibt Vera Kappeler.
Walser und Rausch waren aber auch sehr unterschiedlich. Der deutlich ältere Friedberger schmückte sich gerne mit adligen Gönnern und kritisierte „aus einer antimodernistischen Position die Weimarer Republik“, war „immer akurat gekleidet“, wohnte in Hotels, war ein „älterer Mann mit einiger literarischer Erfahrung und mit einem festen künstlerisch-ästhetischen Konzept“, wie Seuss ihn beschreibt. Der Pfarrersohn aus der Schweiz dagegen führte „ein entsagendes, selbstquälendes, unstetes Leben zwischen Künstler-Café und Atelier – oft bis an die Grenzen gehend“. Er bewegt sich laut Seuss „immer nah am Abgrund“. Die Großstadt und die Entwicklung der modernen Kunst begeistern ihn.
„Gegensätze ziehen sich an“, behauptet der Volksmund. Sollte dafür ein Beweis nötig sein, dieses Buch liefert ihn. Seuss spricht von einer „intensiven Freundschaft“ die „im gegenseitigen Respekt gegenüber der künstlerischen Arbeit und in persönlicher Anteilnahme – zwischen Avantgarde und Konservatismus“ gestanden habe.
Andrej Seuss: „Nur das eine, furchtbare – Andreas ist tot“, edition clandestin in Biel/Schweiz, Hardcover, gebunden 13,5 x 19,5 cm, 132 Seiten, zahlreiche Abbildungen schwarzweiß und farbig, 29 Euro, ISBN 978-3-907262-00-9