Lesung im Geburtshaus des Dichters
Von Ursula Wöll
Der Schauspieler Christian Wirmer liest am 31. Mai 2015, dem „Tag für die Literatur in Hessen“ Georg Büchners (Bild) Novelle Lenz im Geburtshaus des Dichters in Goddelau.
Grandioses Seelengemälde
Die online-Zeitung ‚Der Neue Landbote‘ steht in der aufmüpfigen Tradition des ‚Hessischen Landboten‘, mit dem Georg Büchner und Ludwig Weidig die sozialen und politischen Zustände ihrer Zeit analysierten. Doch Büchner schrieb weit mehr in seinem kurzen Leben, vor allem für die Bühne, aber auch Prosa. Die Novelle „Lenz“, 1835 begonnen, wurde erst nach seinem frühen Tod 1837 veröffentlicht. Dieses grandiose Seelengemälde basiert auf dem realen Leben des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz. Drei Wochen, die Lenz beim Pfarrer Oberlin im elsässischen Waldersbach verbrachte, dienten Büchner als Vorlage für seine einfühlsame Erzählung, die bis heute äußerst modern anmutet. Sie wird am 31. Mai, dem ‚Tag für die Literatur in Hessen‘, vom Schauspieler Christian Wirmer in Büchners Geburtshaus in Goddelau in Szene gesetzt.
Waldersbach damals und heute
„Ein sehr großer Wolf bearbeitete die Lattentür des Schweinestalls und versuchte vergeblich einzudringen“, so notierte Jean Frédéric Oberlin am 30. Juni 1809, natürlich auf Französisch. Oberlin war Jahrzehnte Pfarrer und Sozialreformer im elsässischen Steintal, dem Ban de la Roche, etwa 70 Kilometer südwestlich von Strasbourg. Durch diese raue Gegend, in der Wölfe sogar sommers erschienen, wanderte im Januar 1778 der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz. Freunde in der Schweiz hatten ihm die Adresse Oberlins in Waldersbach gegeben. Sie erhofften sich einen mäßigenden Einfluss des als Philantrop bekannten Oberlin auf Lenz, wollten den jungen Mann aber wohl vor allem selbst loswerden. Denn Lenz war psychisch ziemlich herunter und verhielt sich zuweilen recht sonderlich. Fast drei Wochen war Lenz Gast der Pfarrersfamilie, bis man ihn auch hier wieder abschob. Oberlin hinterließ Aufzeichnungen über diese Zeit, die Büchner in Strasbourg zu lesen bekam.
Büchner war wohl selbst nie in Waldersbach, er schrieb seinen „Lenz“ nach den Notizen Oberlins. Genauer gesagt dienten sie ihm als Geländer, um die innere Verfassung eines aus der Bahn Geworfenen zu gestalten. Der Text beginnt so: „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg“, um in der grandiosen Schilderung des winterlichen Elsass die Gefühle des Wanderers zu spiegeln. Dem war, „als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“, er wunderte sich, „dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte“. Ganz wie es dem Chaos in Lenzens Innerem entspricht, fehlt jede Goethesche Ausgewogenheit im Duktus. Die beschriebene Wildheit der Gegend ist heute gezähmt. Ich fahre auf bequemen Straßen ins Steintal und stolpere nicht durchs Gebirg. Betuchte Strasbourger haben sich alte Höfe des 150-Seelen-Dorfs zu Wochenendhäusern ausgebaut.
Auffallend aber ist bis heute die Stille. Nur das Blöken der Schafe ist in dem Hochtal zu hören. Für Lenz war gerade diese Stille peinigend. „Hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt, seit ich in dem stillen Thal bin, hör‘ ich’s immer, es lässt mich nicht schlafen“, lässt Büchner den Lenz zu seinem Gastgeber sagen. Dessen Familie hatte ihn liebevoll aufgenommen. Zum Übernachten führte man ihn „über die Straße, das Pfarrhaus war zu eng, man gab ihm ein Zimmer im Schulhause. Er ging hinauf, es war kalt oben.“ Allein packt ihn die Angst wieder, er rennt hinunter, „er stürzte sich in den Brunnstein, aber das Wasser war nicht tief, er patschte darin.“
Pfarr- und Schulhaus sowie der Brunnentrog davor stehen noch immer nahe der Kirche. Im historischen Pfarrhaus residiert heute das Musée Oberlin, es erhielt einen architektonisch gelungenen Anbau. Die Leiterin, Madame Estelle Méry, erklärt, dass Oberlin als Sozialreformer und Pädagoge in Frankreich berühmt ist, vielen gilt er als Begründer der Institution Kindergarten.
Er erfüllte sogar den Wunsch seines Gastes Lenz, die Sonntagspredigt zu halten. Büchner lässt Lenz beim Läuten der Glocke aus dem Fenster beobachten, „wie die Weiber und Mädchen in ihrer ernsten schwarzen Tracht, das weiße gefaltete Schnupftuch und den Rosmarinzweig auf dem Gesangbuch, von verschiedenen Seiten die schmalen Pfade zwischen den Felsen herabkamen“. Die Kanzel, von der Lenz predigte, steht bis heute in der reformierten Kirche ohne jeden Schmuck, mit Emporen aus hartem Eichenholz. Sogar der Ofen mit dem Ofenrohr quer durch den Raum wird noch genutzt. Man fragt sich: Wieviel Anteil hatte die Religion, die Schuldgefühle produzierte aber durch keine Beichte erleichterte, an der Zerrissenheit des livländischen Pfarrersohnes Lenz? Büchner schreibt von „religiösen Quälereien“, er lässt Lenz ausrufen, als er den Brief seines autoritären Vaters erhält: „Hier weg! weg! nach Haus? Toll werden dort?“
Als Mann der Tat fand Oberlin nicht den richtigen Zugang zu seinem verwirrten Gast. In seiner Ratlosigkeit ließ er ihn schließlich gefesselt zu Goethes Schwager Schlosser nach Emmendingen abtransportieren. Lenz „saß mit kalter Resignation im Wagen, wie sie das Thal hervor nach Westen fuhren. Es war ihm einerlei, wohin man ihn führte.“ Der da noch ungeborene Sigmund Freud lässt grüßen, einzig in der Himmelsrichtung irrt Büchner, denn der apathische Gefangene wird natürlich nach Osten gefahren. Gestorben ist der 1751 geborene Lenz 1792 in Moskau, aber das ist eine andere Geschichte, nachzulesen in der Biografie von Sigrid Damm.
Goddelau gestern und heute
Von Büchners Wohnungen existiert einzig noch sein Geburtshaus in Goddelau, etwa 20 Kilometer südwestlich Darmstadts im Ried. Es ist ein 1665 erbautes Fachwerkhaus, in dessen Erdgeschoss die bäuerlichen Besitzer wohnten. Darüber hatten die jung vermählten Büchners ein Zimmer und eine Kammer gemietet. Die Küche unten durften sie mitbenutzen. Wie schon seine Vorfahren war Vater Büchner Arzt, auf seinen Wunsch studierte auch Georg Medizin. Die Mutter entstammte einer Beamtenfamilie. Während bei Leipzig die Völkerschlacht gegen Napoleon tobte, brachte sie am 17. Oktober 1813 ihr erstes Kind, Georg, in diesem Haus zur Welt. Doch bereits 1816 zogen die Büchners nach Darmstadt, wo dann Georg und seine fünf Geschwister zur Schule gingen.
Heute ist das Geburtshaus in der Weidstraße in Riedstadt-Goddelau historisches Denkmal. Der ‚Förderverein Büchnerhaus‘ hat es renoviert und in den kleinen Räumen eine klug inszenierte Ausstellung eingerichtet. Der ehemalige Kuhstall gegenüber im Hof ist zum Vortragssaal umgebaut. Und hier findet am 31. Mai die Szenische Lesung von „Lenz“ durch den Schauspieler Christian Wirmer statt. Die Veranstaltung beginnt um 18 h und kostet 12 Euro Eintritt, Karten gibt es unter Tel. 06158-9308-41, mail: kultur@riedstadt.de
Wirmer macht viel mehr als „lesen“! Sein freier Vortrag des ganzen Textes ist wirklich beeindruckend und unbedingt das Ansehen wert! http://geschwisterbuechner.de/?s=wirmer