Konzert-CDs zum 180. Todestag
Der Bremer Geschichtsverein Lastoria hat zur Erinnerung an den Butzbacher Revolutionär Friedrich Ludwig Weidig und seine Familie ein Konzert auf der Ober-Gleener Barockorgel und Lieder aus dem Vormärz veröffentlicht, beides Live-Aufnahmen vom Weidig-Wochenende 2015 in Ober-Gleen. Der Butzbacher Rektor war seit seiner Zwangsversetzung im September 1834 Pfarrer des Dorfes und ist es offiziell bis zu seinem gewaltsamen Tod geblieben. Verhaftet wurde er, weil er den „Hessischen Landboten“ herausgegeben hatte, ein illegales Flugblatt mit den Texten von Büchner.
Spott-, Hunger- und Kampflieder
„Wir sind sehr froh, dass die Musikerinnen und der Musiker, die am Weidig-Wochenende aufgetreten sind, nun ihre eigenen CDs in Händen haben“, sagt die aus Ober-Gleen stammende Historikerin Monika Felsing, die sich gemeinsam mit anderen aus dem Verein seit 2012 ehrenamtlich in dem Projekt Owenglie (Ober-Gleen) engagiert. Am Weidig-Wochenende im April 2015 hatten Helmut Brück und Kirsten Ludanek, das Duo EigenArt aus Nidderau, gemeinsam mit der Butzbacher Stadtführerin Dagmar Storck eine besondere musikalische Lesung gestaltet. Die erfahrenen Amateurmusiker stimmten in der Ober-Gleener Kirche Spott-, Hunger- und Kampflieder aus dem Vormärz an. Drehleier und Gitarrenlaute durften da nicht fehlen – die beiden beherrschen eine beachtliche Anzahl historischer Instrumente.
Im vierseitigen Booklet der CD werden die Herkunft und der Hintergrund der 13 Lieder des Konzertes erläutert, teilt der Bremer Geschichtsverein Lastoria in einer Pressemitteilung mit. „Die freie Republik“ handelt beispielsweise von den sechs Studenten, die 1833 wegen ihrer Beteiligung am Frankfurter Wachensturm zu lebenslanger Haft verurteilt gewesen waren. Nach vier Jahren gelang ihnen die Flucht. Der 19-jährige Frankfurter Johannes Rumpf schrieb am 18. Januar 1837 in einem Brief an seine Eltern: „Die 6 Studenten, welche bis soweit glücklich aus ihrem Arreste gekommen sind, werden auch glücklich über die Grenze kommen, wäre nur Dr. Weidig einmal so weit wie sie sind. Es war wirklich ein wahres Vergnügen mit anzusehen, was für ein allgemeines Vergnügen ihre Flucht herbeiführte, sogar die Gemüsweiber jubelten, und den Morgen nach ihrer Entweichung kief man das Gemüs um 1/3 billiger wie gewöhnlich.“ Zitiert ist der Brief in den Gesammelten Schriften von Friedrich Ludwig Weidig, die die Gesellschaft Hessischer Literaturfreunde 1987 herausgegeben hat. Und das Vergnügen, von dem da die Rede war, wird in einem Spottlied wieder lebendig.
„Die politischen Texte aus Weidigs Zeit haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt“, scheint es dem ehrenamtlichen Herausgeberteam. In den Liedern, die das Duo EigenArt in seinem Repertoire hat, wird die Verfolgung von Regierungsgegnern beklagt, die Arroganz der Mächtigen, die Not des Volkes, die Trägheit der Bürger und mehr als einmal die Pressezensur. Beim letzten Stück stimmt das Publikum mit ein: „Die Gedanken sind frei!“
Kirchenmusik des frühen 19. Jahrhunderts
Der zweite Live-Mitschnitt vom Weidig-Wochenende 2015 ist von sakralem Ernst geprägt – und vom energiegeladenen, tief empfundenen Spiel einer virtuosen Kirchenmusikerin. Johann Sebastian Bach, Carl August Kern, Felix Mendelssohn, Johann Pachelbel, Johann Gottfried Walther, Dieterich Buxtehude, Georg Friedrich Händel und Samuel Scheidt: Mit ihrer Auswahl der Stücke vermittelt Veronika Bloemers, die von Otto-Jürgen Burba an der Neuen St. Nicolaikirche in Frankfurt am Main, von Valery Maisky in Tel Aviv und Jaffa, von Elisabeth Roloff (Paris/Jerusalem) und Hubert Best (London/Göteborg) ausgebildet worden ist, ihren Zuhörern einen authentischen Eindruck von der deutschen Kirchenmusik des frühen 19. Jahrhunderts. Ihr Spiel macht aus einem einmanualigen Instrument, der Kirchenorgel des kleinen oberhessischen Dorfes, eine vielstimmige und beredte Zeitzeugin. Die Live-Aufnahme lässt erahnen, wie groß die Klangpalette der zwölf Register ist und was für ein kostbares Kulturerbe diese Barockorgel. Einmal mehr verbindet Kirchenmusik die Vergangenheit mit der Gegenwart.
Die Doppel-CD „Friedrich Ludwig Weidig“ aus der Reihe „So klingt Owenglie“ und acht Kapitel in „Himmel un Höll“, dem dritten Band der vierteiligen Buchreihe über Ober-Gleen, erzählen die Geschichte des Sozialrevolutionärs Friedrich Ludwig Weidig, seiner Frau Amalie und seiner beiden Kinder. Und sie erinnern zugleich daran, dass 84 Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinde nach der Verhaftung ihres Pfarrers enorme Zivilcourage gezeigt und eine Bittschrift ans Ministerium gerichtet haben. Alsfelder Polizeiprotokolle sind der Beweis dafür. Die legendäre Ober-Gleener Petition, eine der weltweit ersten Unterschriftenlisten für die Freilassung eines politischen Gefangenen, gilt heute als verschollen.
Die CDs sind in kleiner Auflage erschienen und bei den Mitwirkenden erhältlich. Die vier Sachbücher der Ober-Gleen-Reihe gibt es im Buchhandel und beim Verein Lastoria. Derzeit arbeiten die Ehrenamtlichen an einem Hörfeature zur jüdischen Geschichte von Ober-Gleen und an fünf weiteren CDs mit Ober-Gleener Originalaufnahmen. „Außerdem haben wir zur Erinnerung an Betty Baer, geborene Sondheim aus Ober-Gleen, und ihren in Köln geborenen Sohn Alfred ein europäisches Gedenkprojekt ins Leben gerufen“, sagt Monika Felsing, die auch den mundartlich-hochdeutsch-englischen Blog Owenglie schreibt und ihre Rechercheergebnisse unter anderem an Alemannia Judaica weitergibt. „Wir wollen Informationen über die deutschsprachigen Flüchtlinge bündeln, die damals wie die Familie Frank in Amsterdam im Exil und dort bis zum Einmarsch der Wehrmacht in Sicherheit waren. Aus Hessen waren eine ganze Reihe von Dörfern und Städten vertreten, unter anderem Frankfurt, Marburg, Gießen, Kassel, Angenrod, Alsfeld, Nieder-Ohmen, Ober-Gleen, Eschwege, Neustadt, Treysa und Kirchhain. Wir hoffen darauf, dass sich bundesweit möglichst viele an dem Gedenkprojekt beteiligen und Informationen beisteuern.“ Der Titel des Gedenkprojektes, „Deutschland auf der Flucht“, verweist zugleich auf Hermann Deutschland aus Bremen, der ebenfalls nach Amsterdam geflohen war.
Weitere Informationen über den Geschichtsverein Lastoria, seine Projekte Owenglie (Ober-Gleen) und „Deutschland auf der Flucht“ gibt es auf lastoria-bremen.de. Der Blog in Ober-Gleener Mundart, Hochdeutsch und Englisch heißt Owenglie. Kontakt ist auch per E-Mail möglich, unter der Adresse mail@lastoria-bremen.de.
Ein Gedanke zu „Friedrich Ludwig Weidig“