„Sind eine funktionierende Demokratie“
„Freiheit, Freiheit“, dudelt der Evergreen aus dem Kassettenrecorder eines „Spaziergängers“. Mit vielen anderen Personen stellt sich der Mann an der Dankeskirche in Bad Nauheim auf. Es ist Montagabend, 18 Uhr. Ziel der sogenannten Montagsspaziergänger ist es, bei einem Gang durch die Stadt gegen die Corona-Regeln zu protestieren. Parallel vollzieht sich zum nunmehr vierten Mal eine friedliche Versammlung, Orte sind die Stele in der Stresemannstraße und der Aliceplatz. Als Redende sind dort Landrat Jan Weckler (CDU) sowie die Bundestagsabgeordneten Peter Heidt (FDP) und Natalie Pawlik (SPD) zugegen.
Kerzen, Trommeln, Pfiffe
Die „Montagsspaziergänger“ erhalten, bevor sie losgehen, Anweisungen der Polizei Wetterau durch das Megafon. Sie sollen einen Versammlungsleiter benennen, was sie laut der Pressestelle der Polizei aber nicht tun. Zudem sollen sie Masken aufsetzen, was der allergrößte Teil nicht befolgt. Die, laut Schätzung der Ordnungshüter, 400 „Spaziergänger“ gehen die Kiespromenade hoch, teilweise mit Kerzen in der Hand und umgehängten Lichterketten, wobei Trommeln und Pfiffe ertönten.
Friedliche Versammlung: „Keine Gegendemo“
Veranstalter der zeitgleich stattfindenden friedlichen Versammlung vis-a-vis sind städtischer Ausländerbeirat, Verein JUKA (Jugendkultur und Jugendarbeit) und TAF Theater. Diese Veranstaltung ist angemeldet. Laut Polizei liegt die Zahl der Teilnehmer bei 150 Personen, laut der Veranstalter bei 300. Maske ist vorgeschrieben, was die Anwesenden auch einhalten. Eine „Gegendemo“ sei es nicht, wie ein Sprecher des Organisationsteams erklärt. „Wir versammeln uns, um darauf hinzuweisen, dass sich unter die ‚Montagsspaziergänge‘ Personen mischen, die unserer Ansicht ein anderes Ansinnen haben als lediglich gegen die Corona-Maßnahmen zu protestierten.“ Zu den „Montagsspaziergängen“ ruft beispielsweise auch die NPD Wetterau auf.
„Können Pandemie nur gemeinsam überwinden“
Landrat Weckler dankt den Menschen, die gekommen sind, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen. „Wir können die Pandemie nur gemeinsam überwinden“, sagt er. Die Bezeichnung „Montagsspaziergänge“ sei ein in seinen Augen historisch völlig unzulässiger Vergleich mit den Montagsdemonstrationen aus dem Jahr 1989. „Damit ließ damals eine Demokratiebewegung einen autoritären Staat zusammenbrechen.“ Deutschland sei allerdings weit entfernt von einem autoritären Staat und schon gar keine Diktatur. „Wir sind eine funktionierende Demokratie“, unterstreicht Weckler.
600 Menschen im Wetteraukreis gestorben
Er erinnert an die mittlerweile rund 600 Menschen im Wetteraukreis, die an der Corona-Krankheit gestorben sind. „Wären viele von diesen Menschen rechtzeitig geimpft worden, hätten sie länger gelebt oder würden noch leben“, sagt er. Es gelte, gerade in schwierigen Situationen für den Zusammenhalt der Gesellschaft zu werben. Ängste, Sorgen und Zweifel müssten ernstgenommen und weiter Überzeugungsarbeit geleistet werden. „Uns aber gleichzeitig von denen abgrenzen, die die Corona-Maßnahmen für eigene Zwecke instrumentalisieren wollen, die gültige Regeln für Demonstrationen bewusst nicht einhalten und so gezielt unser demokratisches Staatswesen in Frage stellen.“
Zwischenfall in Bad Nauheim
Einige Personen stören die Rede von Landrat Weckler mit Zwischenrufen, darunter ein Mann ohne Maske. Ordnungshüter nehmen die Personalien des 54-Jährigen auf und erteilen ihm einen Platzverweis. Weitere Personen filmen die Versammlung, in mindestens einem Fall auch mit der Nahaufnahme eines Teilnehmenden.
Friedliche Versammlung: „Wir halten dagegen“
Bundestagsabgeordnete Pawlik geht darauf ein, dass „Spaziergänger“ das Wort „Diktatur“ skandieren. „Damit verspotten sie diejenigen und behandeln Menschen respektlos, die tatsächlich unter den schrecklichen Diktaturen dieser Welt zu leiden haben.“ Die große Mehrheit sei nicht die kleine Minderheit, die Hass und Hetze verbreite. Gemeinsam zu sagen „Wir halten dagegen“ sei daher von Bedeutung. Pawlik ruft dazu auf, Hass und Hetze zu bekämpfen, die sich beispielsweise auch in den sozialen Medien vollziehe. „Da muss Politik handeln“, sagt sie. Es sei wichtig, eine Infrastruktur zu haben, die dagegen vorgeht. Aber auch im Kleinen gelte es, einander viel mehr mit Respekt zu begegnen, mehr zuzuhören und in schwierigen Diskussionen ebenfalls sachlich und bei den Fakten zu bleiben. Eine Möglichkeit sei, den einen oder anderen Freund oder Kollegen darauf hinzuweisen, ob er eine seriöse Quelle zitiert oder ob es ein wissenschaftliches Argument ist. Sie appelliert, dabei zu helfen, sich zu informieren.
„Land ist insgesamt gut durch Pandemie gekommen“
Wie Peter Heidt (FDP) erklärt, zehrt die Pandemie an den Nerven. Gleichzeitig sei zu erleben, wie sich die Gesellschaft immer mehr spalte. „Wir müssen daher heute ein Zeichen geben, dass wir uns nicht spalten lassen“, betont er. Seinen Worten zufolge versteht er Menschen, die wegen der einen oder anderen Corona-Maßnahme Bedenken haben. Die letzten Corona-Pakete der Bundesregierung seien Kompromisse gewesen – nicht alle waren nach Ansicht von Heidt gut, aber viele. „Ich glaube, unser Land ist insgesamt noch gut durch die Pandemie gekommen und darauf sollten wir stolz sein“, hebt der Liberale hervor.
Er kommt auf das Thema Impfpflicht zu sprechen, das in den parlamentarischen Gremien diskutiert werde. „Die Pandemie wird nicht in Hinterstuben entschieden, sondern in fairem demokratischem Wettbewerb“, sagt er. Das Demonstrationsrecht sei wichtig, aber es gelte, sich an die Regeln zu halten. Wer die Rechte und Pflichten der Gemeinschaft nicht achte, bewege sich in Richtung Anarchie. Als Sprecher der FDP für Menschenrechte im Bundestag habe er mit Verfolgten aus diktatorischen Ländern gesprochen. Sehe er dann Demonstrationen, die von „Diktatur“ sprechen, obwohl die Deutschen in Freiheit lebten, stelle er fest: „Diese Personen wissen nicht, was Diktatur ist.“
Banner „Die rote Linie“
Die „Spaziergänger“ drehen parallel zum Geschehen auf dem Aliceplatz eine große Runde durch die Stadt, um gegen 19.45 Uhr an der Ecke Dankeskirche/Parkstraße wieder zu erscheinen. Vor dem Zug läuft Polizei, daneben fahren Polizeiautos. Die vorderen Demonstranten tragen ein Banner, auf dem „Die rote Linie“ steht. Dabei skandiert die Menge die Parolen „Frieden, Freiheit, keine Diktatur!“ und „Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung!“
Laut Angaben der Polizei vom Dienstag kam es in Bad Nauheim aufgrund hoher Teilnehmerzahlen zeitweise zu Verkehrsbeeinträchtigungen. Ein Zwischenrufer bei der „Gegenveranstaltung“ habe den Ordnungshütern ein ärztliches Attest gezeigt, wonach er von der Maskenpflicht befreit sei. Das Papier sei vermutlich aber gefälscht, die Polizei nehme diesbezüglich Ermittlungen auf. Insgesamt waren in der Wetterau 1750 Personen bei den Veranstaltungen: in Altenstadt, Bad Nauheim, Bad Vilbel, Butzbach, Friedberg, Karben, Nidda und Ortenberg.
Feuer nicht mit Feuer bekämpfen
Ob die friedliche Versammlung angesichts der hohen Inzidenzzahlen im Wetteraukreis nächsten Montag wieder terminiert ist, steht aktuell noch nicht fest. Das Organisatoren-Team möchte laut einer Sprecherin „Feuer nicht mit Feuer bekämpfen“.