Der Dschungel

Lesereise in Corona-Zeiten

von Ursula Wöll

Das Coronavirus vereitelt längst geplante Reisen. Lektüre bietet Ersatz. Landbote-Autor Bruno Rieb begab sich statt auf eine Wanderung zum Brocken mit Heines Buch auf Harzreise und fragte, ob es auch für seine Wanderung auf der Bärenrunde in Lappland eine Lektüre als Ersatz gibt. Seine Landbote-Kollegin fand keine passende und will ihn stattdesssen in den Dschungel schicken: „Wie wäre es daher mit einem anderen, ähnlich gefährlichen Reiseziel? Ich schlage den Großstadtdschungel von Chicago vor. Darüber kann man auch lesen, ganz ungefährlich im Armstuhl. „Der Dschungel“ ist der Titel, den Upton Sinclair seinem berühmten Roman gab“.

Die Großstadt als Dschungel

Sinclair wählte den Titel „The Jungle“ selbst. Heute reden da die Verlage stark mit, sie entscheiden letztlich einen Titel. Aber das Buch „Der Dschungel“ ist bereits über 100 Jahre alt. Es kam 1906 heraus, wird aber bis heute immer wieder aufgelegt. Ich fand es im Wust meines Bücherregals,  äußerlich etwas angestaubt. Auch die Erzählweise ist wohltuend traditionell, also chronologisch fortlaufend, Bilder im Kopf erzeugend und die Handlung leicht verständlich. Das genau liebe ich. Oft kommt mir das Verrätseln bei jüngeren AutorInnen als Anstrengung vor, ihrem Roman den Adel großer Literatur anzuhängen. Große Literatur ist ‚Der Dschungel‘ allemal. In viele Sprachen übersetzt, berichtet er packend und historisch genau aufgrund der langen Faktenrecherche des Autors vor Ort. Wochenlang wohnte der 1878 geborene Upton Sinclair im stinkenden und dreckigen Großstadt-Dschungel Chicagos. Er streifte durch die kalten Straßen des riesigen Schlachthofviertels, besichtigte die Konservenfabriken und interviewte die armen BewohnerInnen in ihren ungeheizten Elendswohnungen. Die Fakten verarbeitete er in der Einwanderungsgeschichte der litauischen Familie Rudkus zum Roman.

Chicago. (Bildquelle: Von King of Hearts – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45097185)

Die Muckraker-Autoren

Auch andere junge Autoren nahmen die zum Himmel schreienden Zustände zur Basis ihrer sozialkritischen Romane. Wegen dieser Sozialkritik schmähte sie der damalige Präsident Theodore Roosevelt  als ‚Muckrakers‘ (Nestbeschmutzer). Ein Beweis dafür, dass Literatur gefürchtet wird, weil sie doch was bewegen kann. Das Buch „Der Dschungel“ erzeugte tatsächlich einen amerikaweiten Skandal. Dadurch erzwang es einige Gesetze, die die Arbeits- und Lebensverhältnisse sowie die Hygienebedingungen aber nur wenig besserten.Wer Sinclairs Dschungel gelesen hat, wird leicht zum Vegetarier.

Abertausende Rinder, mit der Eisenbahn aus allen Landesteilen herangeschafft, kamen krank an und dann elendig um. Sie wurden an Fließbändern verarbeitet, die den im Blut watenden Arbeitern den Arbeitstakt vorgaben. Wenig später übernahm Henry Ford diese Bänder für seine Autofertigung. Die Einwanderung sorgte für ein Überangebot an Arbeitern, die mies bezahlt wurden. Die Konkurrenz untereinander, Schmutz, Gestank, Lärm, Hunger und Kälte töteten daher auch die Menschen. Seelisch und nicht selten körperlich. Es ist schon sehr ergreifend, wie Upton Sinclair das Sterben der Litauerin Ona bei der Geburt ihres zweiten Kindes schildert, weil aus Geldmangel kein Arzt geholt werden kann.

Das Buch beginnt ganz hoffnungsvoll mit der Hochzeit der jungen Ona mit Jurgis. Beide lieben einander und kamen voller Erwartungen in Chicago an. Wie alle Migranten, so wollten auch die aus Litauen ein wenig an ihren Traditionen festhalten. Obwohl sie sich dadurch hoch verschuldeten, war eine traditionelle große Hochzeitsfeier mit Fiedelmusikanten, Essen und Tanz einfach ein Muss. Solche Extravaganzen müssen sie sich bald abschminken. Es geht bergab, bis die Tage nur noch mit Anstrengung ums nackte Überleben ausgefüllt sind. Die sprachliche Hilflosigkeit der EinwandererInnen begünstigt, dass sie ausgenommen werden. Woher sollen sie als frühere Dorfbewohner auch wissen, dass Kredite nicht nur Abzahlungen, sondern überdies hohe Zinsen bedeuten? Im Vertrag steht das zwar, aber auf englisch.

Der Held Jurgis verliert natürlich bald seinen Arbeitsplatz in den Schlachthöfen, er reiht sich in das Heer der Arbeitssuchenden ein, die zu jeder Arbeit bereit sind, um nicht zu verhungern. Er muss sogar betteln und landet auch mal im Gefängnis, weil ihm von korrupten Beamten nicht geglaubt wird. Er sucht als Tramp auf Güterzügen nach Arbeit außerhalb der Großstadt. Am Ende lernt er die Sozialistische Partei kennen und kapiert, dass die Zustände nur durch ein gemeinsames solidarisches Handeln verbessert werden können. So endet der Roman mit einem Hoffnungsschimmer.

Upton Sinclair, Der Dschungel, Unionsverlag, UT 664, Taschenbuch, Broschiert, 416 Seiten, ISBN 978-3-293-20664-9, 16,95 Euro.

www.landbote.info/heinrich-heine/#more-17922

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