Bürgerbeteiligung Gießen

Brücke zu Bürgern reißt nicht

von Jörg-Peter Schmidt

Die kommunalpolitische Brücke, die die Stadt Gießen 2015 mit der Bürgerbeteiligungssatzung (BBS) zur Bevölkerung gebaut hat, soll bestehen bleiben. Dass es allerdings einige entscheidende Änderungen geben muss, verdeutlichte jetzt während einer Pressekonferenz im Gießener Rathaus Oberbürgermeister (OB) Frank-Tilo Becher. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VHG) hat Teile der Bürgerbeteiligungs-Satzung der Stadt aufgehoben.

Antrag für Parlament liegt vor

Der Oberbürgermeister informierte zusammen mit Rechtsamtsleiterin Sonja Schmitz über einen Antrag für die Stadtverordneten-Sitzung, wonach der Magistrat wie folgt beauftragt wird: Bis spätestens  zur Parlamentssitzung am 14. Juli 2022 soll ein Entwurf für eine Änderungssatzung vorgelegt werden, in der die vom RP beanstandeten Regelungen so geändert werden, dass den Anordnungen des RP  Rechnung getragen wird. Das Regierungspräsidium hat ja vom VGH Recht bekommen, wonach die Bürgerbeteiligungssatzung die Handlungsspielräume der politisch Handelnden zu sehr begrenzt habe.

Teile der Satzung werden beanstandet

OB Becher zeigt sich entschlossen: Die Intention zur  stärkeren Beteiligung der Bürger an den kommunalpolitischen Weichen soll bleiben. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)

Es geht um Paragraphen, in denen die Bürgerbeteiligung, die Bürgerschaftsversammlung und Bürgeranträge in der Satzung geregelt sind.

Ein Beispiel: So heißt es im Paragraphen 10, 3 der beanstandeten Satzung zu Bürgeranträgen unter anderem: “Zulässige Anträge sind von dem zuständigen Organ bei seiner nächsten nach seiner Geschäftsordnung erreichbaren Sitzung nach Möglichkeit in öffentliche Sitzung zu beraten und zu entscheiden. Vor einer Entscheidung darf das zuständige  Organ keine Maßnahmen treffen, die die Verwirklichung des Antrags  ganz oder teilweise unmöglich machen, erschweren würden, es sei denn, der Antrag richtet sich gegen eine bereits begonnene Maßnahme…

Und zu Bürgerschaftsversammlungen  (Paragraph 9) heißt es im Absatz 3 unter anderem: „Die Stadt trifft vor und innerhalb von sechs Wochen nach der Bürgerschaftsversammlung keine abschließende Entscheidung über den Verhandlungsgegenstand der  Bürgerschaftsversammlung.“

Aussetzung der Satzung

Laut dem Antrag des OB sollte die Satzung erst einmal ausgesetzt werden. Becher  unterstrich in der Pressekonferenz, an der regionale und überregionale Medien teilnahmen, dass die Bürgerbeteiligungssatzung bei der Bevölkerung Anklang gefunden hat: Bisher wurden elf Bürgeranträge gestellt und es fanden zwei Bürgerversammlungen statt

Beiräte möglicherweise Lösung

Der Oberbürgermeister hat bereits überlegt, auf welchem Weg man die durch die Satzung geschlagene symbolische Brücke zur Bürgerschaft erhalten könne. Möglicherweise biete der Paragraph 8 c der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) eine Chance: Beispielsweise Beiräten können in den Organen der Kommune und ihren Ausschüssen sowie Ortsbeiräten  Anhörungs-. Vorschlags- und Redemöglichkeit eingeräumt werden, heißt  es unter anderem an dieser Stelle in der HGO.

Ob die HGO hier wirklich eine Chance bietet, wird sich erst bei den Beratungen weisen. Der OB dürfte sich mit vielen Kommunalpolitikern in Gießen und auch mit dem RP einig sein: Die Bürger der Universitätsstadt  sollen nach der VGH-Entscheidung keinesfalls im Regen stehen. 

Auch Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich hatte in seiner Pressemitteilung zu dem VGH-Beschluss beteuert: „Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Bürgerinnen und Bürger sollen sich unserer Auffassung nach an einzelnen politischen Entscheidungen oder bei Planungen in ihrer Stadt oder Gemeinde beteiligen. Das halte ich für ein grundlegend wichtiges Mittel zur demokratischen Teilhabe am eigenen Wohnort und somit dem eigentlichen Lebensmittelpunkt.“

Kommentar

von Jörg- Peter Schmidt

Die juristische Entscheidung gegen die Stadt Gießen ist nur formal eine „Niederlage“ und bedeutet keineswegs einen Abschied von der Bürgerbeteiligung: Die parlamentarischen Gremien können in den kommenden Monaten die Paragraphen der Satzung so umformulieren, dass sie für die Aufsichtsbehörde Regierungspräsidium (RP) genehmigungsfähig sind.

Es wäre ein Jammer, wenn die 2015 noch von der Stadtregierung mit der Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz an der Spitze erarbeitete Satzung in irgendeiner Schublade verschwinden wäre. Denn sie soll ja die Kluft beseitigen, die in Entscheidungsfindungen zwischen  Kommunalparlamenten und der Bevölkerung oft klafft. Im Grunde sind die Rechte der Bürgerinnen  und Bürger, ihre Ideen und Initiativen in die kommunale Arbeit einzubringen, noch immer viel zu gering.

Genau dies sollte in Gießen (in Hessen bis jetzt einmalig per Satzung) geändert werden. Auch als Mittel gegen Politikverdrossenheit. Die Schwächen, wonach laut Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs bzw. des RP einige Paragraphen der Satzung die parlamentarische Arbeit bremsen, kann man ändern bzw. verbessern.

Die Satzung fand von Anfang an Resonanz: Verschiedene Bürgeranträge wurden gestellt, beispielsweise  zum Klima  oder Straßenverkehr. Das Interesse der Bevölkerung, in Gießen Politik mitzugestalten, ist also deutlich vorhanden. Die Chance besteht, dass dieser Wunsch sowohl von der Kommunalpolitik als auch der Bevölkerung weiterhin erfüllt werden kann.

Titelbild: Hinter der Glasfassade des  Gießener Rathauses  werden in den kommenden Wochen wichtige Entscheidungen zur Bürgerbeteiligungssatzung getroffen.  (Fotos: Jörg-Peter Schmidt/Wikipedia)

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