Brocken-Wanderung

Kestners sittsame Rast auf Stbrocken1roh

von Jörg-Peter Schmidt

Johann Christian Kestner ­ (literarisch verewigt als Ehemann von „Werthers Lotte“), unternahm 1789 eine Wanderung auf den rund 1140 Meter hohen Brockenund hielt seine Eindrücke in einem Tagebuch fest, aus dem jetzt in der Phantastischen Bibliothek in Wetzlar gelesen wurde. (Foto: „Brocken Gipfelstein“ von Sönke Kraft aka Arnulf zu Linden)

„Beschwerlich wie die Reise der Kinder Israels“

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Johann Christian Kestner

Wandern ist heute – auch bei jungen Leuten – wieder „in“. Die Rucksack-Touren im In- und Ausland unternehmen die meisten Frischluftfreaks selbstverständlich mit allerlei Computertechnik voll ausgerüstet – Ferngläser mit Nachtsichtoptik sind im Gepäck dabei. Und wie lief so etwas früher, beispielsweise im 18. Jahrhundert, ab? Darüber hat ein guter Bekannter von Johann Wolfgang von Goethe aus der gemeinsamen Wetzlarer Zeit einen Bericht verfasst. Es handelt sich dabei um Johann Christian Kestner ­ (literarisch verewigt als Ehemann von „Werthers Lotte“), der eine Wanderung auf den rund 1140 Meter hohen Brocken im Jahr 1789 mit folgendem Vergleich charakterisierte: „Beschwerlich wie die Reise der Kinder Israels in der Wüste“. Der Jurist und Archivar in Hannover hatte seine Harz-Eindrücke in einem Tagebuch festgehalten, aus dem kürzlich auf Einladung der Goethe-Gesellschaft der Autor Dr. Alfred Schröcker rezitierte.

Gedanklich mit auf steinigen Wegen

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Der Brocken.                                          (Foto: Wikipedia/Corradox)

Die rund 50 Zuhörer begaben sich in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar also ins Jahr 1789, kraxelten und stolperten dank der spannenden Reiseschilderungen gedanklich mit auf steinigen, unbefestigten Wegen durch morastiges Gelände und wurden schließlich durch den Zauber des Sonnenaufgangs und den fantastischen Ausblick belohnt. Abgerundet wurde der Vortrag durch die historischen Erläuterungen von Friederike Schröcker, der Frau des Referenten. Die Brockenbahn gab es damals nicht – also mussten Kestner, seine Charlotte und etwa ein Dutzend weiterer Personen den Sagen umwobenen Berg zu Fuß erobern. Zu den Begleiterinnen gehörten auch „drey Mädgen mit Trag Kiepen voll Proviant an Braten, Kuchen, Brodt, Wein und Salz.“ Bei den „Mädgen“ handelte es sich um „Kiepenfrauen“, die große Lasten vom Harzvorland in den Oberharz trugen.

Unverheyratete auf schlechtem Streu

Das Nachtlager der Wandergruppe in einer Unterkunft auf der Heinrichshöhe (1040 Meter) entsprach bei weitem nicht dem Standard einer heutigen Wohlstandgesellschaft. Kestner formuliert dies folgendermaßen: „Die unverheyrateten begaben sich … auf ein schlechtes Streu, wir übrigen … behielten das warme Zimmer, und erhielten ein besseres Lager auf Stroh, Heu, Kissen und Laken, wo wir uns dann nach Gebühr und Sittsamkeit placirten“.

Im Tagebuch, das damals die Funktion unseres heutigen Fotoalbums hatte, wird mehrmals erläutert, wie strapaziös die Wanderung war: „Sehr oft mussten die Damen einen Schuh, welcher stecken blieb, sich wieder anziehen, oft sich ausruhen und den Stromweise fließenden Schweis sich abtrocknen; wiewohl wir doch alle lustig und guter Dinge blieben.“

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Das Ehepaar Friederike und Alfred Schröcker. (Foto: Schmidt)

Das Ehepaar Schröcker, dem die 1. Vorsitzende Angelika Kunkel im Namen der Goethe-Gesellschaft unter langem Applaus für den vorzüglichen Vortrag dankte, wünschte den Zuhörern im Fall einer eigenen Harzreise „trockenes Wetter und dass keine Dame den Schuh verliert.“ Soweit also das Ehepaar Schröcker.

Fazit: Der Kestner-Abend in Wetzlar hat gezeigt, wie abenteuerlich das Wandern vor zwei- oder dreihundert Jahren sein konnte. Aber irgendwie war es in mancher Hinsicht – so ganz ohne die heutige Technik ­ – vielleicht spannender. Und Schlafen auf Stroh oder Heu soll doch ganz gesund sein…

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