Ich und mein Rollator
Es gibt 7,5 Millionen Schwerbehinderte hierzulande, weitere 17 Millionen, vor allem ältere Menschen, sind in ihrem Alltag eingeschränkt. Seit einiger Zeit gehört Landbote-Autorin Ursula Wöll zu ihnen. Sie musste feststellen, dass es mit der Barrierefreiheit nicht zum besten steht. „Wird das am 12. Mai verabschiedete Bundesteilhabegesetz Abhilfe schaffen?“, fragt sie.
Kühle Gesellschaft
Ja, ich laufe mit Rollator, und das nicht ohne Schmerzen und recht langsam. Es gibt nun Tage, da wechsele ich nur mit der Kassiererin ein paar Worte. Ich kaufe bei Aldi, weil dort die Wege kurz sind und die Einkaufswagen neben dem Parkplatz stehen. Zuhause habe ich Gesellschaft, besser gesagt, eine Illusion davon. Das Radio bringt die vertrauten Stimmen der SprecherInnen in den informativen, werbefreien Sprechsendungen des DLF, WDR oder HR2. Ab und zu verirrt sich eine private eMail zu mir. Wer früher aus Berlin, Frankfurt oder sonstwo anrief, stellt auf mails um. Es nützt mir nichts, auf dem Dorf zu wohnen, denn der Mythos von der dörflichen Gemeinschaft verhinderte nicht, dass auch hier die meisten Kontakte abrissen.
Als ich merkte, dass sich sogar alte Bekannte „verdünnisierten“, verstand ich zunächst die Welt nicht mehr. Ich fühlte mich allein, und das schmerzte fast mehr als die elenden Knochen. Wer mich zufällig traf, tat so, als wäre ich mit Rollator geboren. Dabei hätte mir sogar ein gedankenloses „Gute Besserung“ schon Trost bedeutet. Nun also weniger mobil, vermisse ich liebevolle Aufmerksamkeit und Zwiegespräche. Da hilft es mir wenig, wenn die Soziologen melden, dass auch die Kommunikation zwischen Gesunden immer spärlicher wird. Das Buch mit dem Titel „Die kühle Gesellschaft“ analysiert das sehr gut.
Behinderte Menschen als Mängelexemplare
Ich achte darauf, dass ich niemand mit Krankengejammer auf den Wecker gehe und vermeide, kleine Dienstleistungen zu erbitten. Mein Leiden ist nicht ansteckend, aber in den Augen der Gesellschaft – wie Krankheiten generell – immer noch ein Makel. Als ich mich endlich einmal in das gestresste Leben meiner Bekannten hineinversetzte, kam mir die Erinnerung an mein eigenes Verhalten in gesünderen Jahren. Erschrocken wurde mir klar, dass ich damals selbst oft genug ähnlich unachtsam war. Kranke und behinderte Menschen sortierte ich wohl unbewusst in eine Schublade, und zwar in die unterste. De facto lag ich damit im Trend, der trotz aller gegenteiligen Beteuerungen behinderte Menschen als Mängelexemplare gesellschaftlich ausgrenzt. Nun erst wurde mir klar, wie oberflächlich ich mich einst in solche Menschen hineinversetzt hatte. Wieviel Irrtümer begeht man doch im Laufe seines Lebens! Und das nicht aus bösem Willen.
Denn nur wer eine Situation oder ein Gefühl selbst durchlebt hat, kann sich wirklich in andere hineinversetzen. Auch Literatur kann hilfreich sein, andere besser zu verstehen. Beschreibt sie doch Glück, Trauer, Angst, kurz alle Gefühle in Reinkultur. Der Schriftsteller Stefan Zweig erkannte das, als er auf den Kellner Giovanni traf, der ihn bat, ihm einen Brief vorzulesen. Giovanni konnte selbst nicht lesen. Zweig erkannte schockiert, „dass die Gabe, weiträumig und in vielen Verbindungen zu denken, nur dem zuteil wird, der über seine eigene Erfahrung hinaus die in den Büchern aufbewahrte in sich aufgenommen hat. Die Gabe erschüttert zu werden von einem fremden zufälligen Schicksal, verdankte ich dies nicht der Beschäftigung mit dem Dichterischen?“
Weg mit den Barrieren
Um mehr Einfühlungsvermögen zu wecken und auch praktische Erleichterungen wie Barrierefreiheit zu fordern, gibt es den „Europäischen Tag zur Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung“, und zwar jährlich am 5. Mai. In Marburg veranstalteten diesmal eine Reihe von Organisationen bis hin zum VdK einen „Nachfühltag“. Gesunde sollten erfahren, wie mühsam es oft ist, mit einer Behinderung möglichst „normal“ zu leben. Angeboten wurde etwa ein Rollstuhl-Parcours oder das Gehen mit dem Blindenstock. Wie kommt man mit dem Rolli oder Rollator im Sand oder über Zweige und Bürgersteigstufen vorwärts? Oder in einen Zug hinein? Wie funktioniert die Gebärdensprache?
Schon seit Jahresbeginn hat der VdK mit seinen 1,7 Millionen Mitgliedern eine Initiative „Weg mit den Barrieren“ gestartet. Behinderte selbst melden sich aber auch immer häufiger zu Wort: Als am 12. Mai das Bundesteilhabegesetz verabschiedet wurde, ketteten sich in Berlin 20 RollstuhlfahrerInnen vor dem Bundestag 22 Stunden lang an, um in letzter Minute Verbesserungen zu erreichen. Ihnen ging der Entwurf nicht weit genug. Sie forderten, dass auch private Institutionen, wie etwa Cafés oder Arztpraxen barrierefrei zugänglich werden müssen. Und dass die Wahl einer eigenen Wohnung nicht vom Willen des Kostenträgers abhängt. Unterstützt werden diese Forderungen nicht nur vom VdK, sondern auch von der „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben ISL“ und der „Aktion Mensch“ sowie dem „Netzwerk Artikel 3 – Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter eV.“
Schon am 4. Mai hatten diese Organisationen eine Demonstration in Berlin mit 5000 TeilnehmerInnen organisiert. An ihr hatten auch zwei Mitglieder der Marburger Multiple-Sklerose-Selbsthilfegruppe teilgenommen, Heike Emmel und Christl Trilse. Auf ihrem Demoschild forderten sie „Gleichbehandlung, Chancengleichheit, Selbstbestimmung“. Doch alle Appelle waren vergebens. Die Abgeordneten der CDU und der SPD stimmten am 12. Mai namentlich für das mangelhafte Gesetz. „Das hat uns zu einer Traueranzeige am 13. Mai veranlasst“, erklärte Dr. Sigrid Amade, die Geschäftsführerin der ISL. Sie beginnt so: „Wir trauern um die vertane Chance, einer barrierefreien Gesellschaft näherzukommen…..“ Und Bernd Gökeler, Leiter der Marburger MS-Gruppe forderte ein Bundesteilhabegesetz, das diesen Namen auch verdient. Nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 sollte doch nun endlich eine wirkliche Inklusion stattfinden.
Etwas Gutes hatten die vergeblichen Appelle für ein besseres Teilhabegesetz doch: Als relativ neu im Behindertendasein wusste ich vorher nicht, dass die Millionen Behinderten ziemlich gut vernetzt sind und eine Reihe von Organisationen besitzen, die ihre Interessen vertreten. Das tröstet mich, denn ich werde natürlich Mitglied. Heißt doch der schöne Wahlspruch der ‚Aktion Mensch‘: Das WIR gewinnt.