Der Ofen ist aus
von Michael Breuer
„Ei, wo solle wir denn jetzt hingehe?“ Die alte Frau ist nicht die Einzige, die in diesen Tagen ratlos in der Bäckerei Langsdorf steht. Viele haben fassungslos den Aushang an der Verkaufstheke gelesen: „Wir schließen das Geschäft. Mittwoch, 15. Juni, ist unser letzter Tag.“Diese schlichte Mitteilung ist ein Einschnitt in Rechtenbach, denn damit schließt nicht nur die beliebte Traditionsbäckerei im Ort, sondern es verschwindet damit auch praktisch der letzte eigenständige Handwerksbetrieb der Lebensmittelbranche aus der Ortsmitte.
Bäcker werden immer rarer
„Ich hätte gerne noch fünf Jahre weiter gemacht“, sagt Bäckermeister Harald Langsdorf (55). Die Anstrengungen der letzten Jahre wären jedoch zu groß gewesen. Da habe stets Druck bestanden, jemanden für die Backstube zu finden – doch Bäcker würden immer rarer. „Es gibt keine mehr!“ Selbst ein Mitarbeiter, der den Verkaufswagen durch die Dörfer fährt, sei praktisch nicht mehr zu bekommen gewesen. „Ich habe ein halbes Jahr annonciert – trotzdem Fehlanzeige“, stellt Harald Langsdorf fest. „Ich will einfach nicht mehr. Es geht nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr. Ich kann nicht mehr richtig schlafen“, resümiert er die letzten Jahre. Auch muss er sich eingestehen, dass der große Aufwand das Handwerk zu betreiben, sich nicht mehr lohnt.
„Es war für mich klar, dass ich derjenige sein werde, der in der fünften Generation den Schlüssel rumdreht“, formuliert der Bäcker. Sein Sohn arbeitet in der IT-Branche, wird den Betrieb also nicht fortführen. Harald Langsdorf erinnert damit auch an die lange Tradition der Bäckerei in Rechtenbach. Der als Sohn deutscher Einwanderer 1857 in Amerika geborene Konrad Hensel kehrte 1888 mit seinen vier Kindern von Philadelphia aus in die alte Heimat zurück. In Butzbach erlernte er das Bäckerhandwerk und kaufte 1894 das Anwesen an der Frankfurter Straße. Da hatte die Bäckerei alsbald einen sehr guten Ruf. Mit dem Pferdefuhrwerk brachte Hensel sein Brot nach Gießen – 400 Laibe in der Woche.
Die fetten Jahre
Sein Sohn Heinrich führte das Geschäft von 1918 bis 1952. Ursprünglich sollte Heinrichs Tochter Therese mit ihrem Mann Wilhelm den Handwerksbetrieb weiterbetreiben, aber Wilhelm fiel 1943 in Stalingrad. Erna, die zweite Tochter von Konrad Hensel, übernahm dann mit ihrem Mann Albert Langsdorf den Betrieb – daher auch der Namenswechsel. Ab 1974 führte Klaus Langsdorf (79) mit seiner Frau Heidi ( † 2022) das Geschäft. „Damals gab es in der Regel nur Brot, Brötchen und Hefeteilchen, dann aber ist die Feinbäckerei dazu gekommen“, erinnert sich der Senior. „Dann kamen die fetten Jahre. Es gab Frankfurter Kranz, Schwarzwälder Kirschtorte, Windbeutel in allen Variationen – da waren die Leute ganz verrückt drauf.“ Zudem belieferte der Rechtenbacher Bäcker mit seinen Erzeugnissen die Lebensmittelgeschäfte, die Metzgereien und Heime. Auch bei Feiern, Polterabenden und Hochzeiten fehlten die Spezialitäten aus der Bäckerei nicht.
„Das alles kannst du nur machen, wenn du die richtige Frau hast – hat der Vater immer gesagt“, bemerkt Harald Langsdorf lachend, der offiziell den Betrieb in 1998 übernommen hatte. „Und das stimmt,“ ergänzt der Bäckermeister, der seit 20 Jahren zusammen mit seiner Lebensgefährtin Simone Leonhardt das Geschäft führt.
Dem Duft des Brotes war jeder erlegen
Ausgebaut haben die beiden die Bäckerei mit Hilfe vom kleinen und großen Hunger. Die exzellente Lage an der vielbefahrenen Frankfurter Straße hat das optimiert. Denn mit belegten Brötchen und Baguettes, mit Wurst- und Schnitzelbrötchen sowie anderen appetitlichen Leckerbissen wurde die Kundschaft ins Geschäft „gelockt“. Ob Handwerker, Schüler, ausgehungerte Autofahrer oder die Stammkundschaft – dem Duft des Brotes war ein jeder erlegen.
Qualität und Vielfalt ist praktisch das Grundrezept der Bäckerei. Ob Hessisches Landbrot, Backhausbrot, Heide- oder Kosakenbrot. Für jeden Geschmack ist was dabei gewesen. Das Paradestück ist allerdings stets das nach alter Tradition hergestellte „Ausgehobene“ gewesen. Ein reines kräftiges Roggenbrot – aus dem Kessel „gehoben“ und geformt – gebacken mit einem Dreistufensauerteig. Rund 40 Laibe dieser Charakterstücke gingen jeden Tag über die Ladentheke.
Sowieso stand bei den Langsdorfs stets die Pflege des Sauerteigs im Vordergrund. Nicht nur bei den Broten – auch bei Brötchen kam er zum Einsatz: Die Weck wie früher – kurz WWF – gingen weg wie „warme Semmeln“. Alles handgeformt vom Meister und seinem Gesellen Achim Balser. Genauso wie die über 1000 Brötchen verschiedenster Sorten, die die Frauen des Langsdorf-Teams täglich im Geschäft in die Papiertüten packten.
Ein anderes Stück zum Anbeißen waren die Ensaimadas – ein Spezialität aus Mallorca, die das süße Angebot bei den Backwaren in der Bäckerei Langsdorf in brillanter Weise komplettierten. Der mallorquinische Bäcker Pedro Ferrer hatte Harald Langsdorf in das Geheimnis dieser schmackhaften Hefeschnecken eingeweiht; die Ensaimadas wurden zum Kassenschlager in Rechtenbach und bald konnte Harald Langsdorf beim HR-Fernsehen im Maintower und bei den hessischen Radiosendern mit der Schleckerei punkten.
Bei soviel solidem Handwerk und Kreativität ist es auch erklärlich, dass es nicht die Konkurrenz war, die Anteil daran hat, dass die Bäckerei Langsdorf nun schließt. „Ich hatte vor jedem Angst, der hier als Mitbewerber gekommen ist – doch keiner hat mir weh getan“, fasst Harald Langsdorf die Entwicklung zusammen. Geändert habe sich aber doch viel. „Die Dorfmitte existiert nicht mehr. Alles fährt heute zum Aldi und zum Rewe – von dort wird alles mitgebracht. Es ist keine Zeit mehr. Das Schwätzchen beim Bäcker gibt es nicht mehr. Die ganze Kommunikation ist hin.“
Titelbild: Heidemarie Fickert bedient seit vielen Jahren die Kunden in der Bäckerei Langsdorf.
Aus Erfahrung in der eigenen Verwandtschaft weiß ich, dass man nur niedriges Grundgehalt als Bäcker dort bekam und Überstunden weder bezahlt wurden noch abgefeiert werden durften und eigene Ideen einbringen durfte man auch nicht. Wenn man also ausgebeutet wird wie ein Esel, ist es auch kein Wunder, dass es keine neuen Mitarbeiter gibt…
Sehr geehrte Frau Waldschmidt, das Internet ist doch eine tolle Erfindung, wo jeder seinen Müll abladen kann!!! Fakt ist, dass wir auch heute noch guten Kontakt zu vielen unserer ehemaligen Mitarbeitern haben, die sich über viele Jahre bei uns wie in einer großen Familie wohl gefühlt haben.
Gruß Harald Langsdorf