Erklärung stammt aus Bad Nauheim
Die „Göttinger Erklärung der 18“, eine Warnung führender deutscher Atomforscher im Jahr 1957 vor der Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen, wurde in Bad Nauheim eingefädelt. Professor Dr. Walter Simon von der AG Geschichte Bad Nauheim weist auf diesen „gänzlich unbekannten, aber für die Stadtgeschichte wichtigen Sachverhalt“ hin. In einem Vortrag befasst sich am Montag, 20. Juni 2016, die Geschichts-AG der Kurstadt in einem Vortrag mit dem Chemiker Otto Hahn (Foto), dem Intitiator der Erklärung.
Die Wahrheit über die Göttinger Erklärung
Von Professor Dr. Walter Simon
Am 20. Juni 2016 behandelt die AG Geschichte Bad Nauheim im Rahmen ihrer Vortragsreihe ‚Hessische Persönlichkeiten‘ den in Frankfurt am Main geborenen Chemiker Otto Hahn. Zusammen mit Lise Meitner und Fritz Straßmann war ihm 1938 die erste Kernspaltung gelungen. Für diese weltbewegende Entdeckung erhielt er 1945 den Chemie-Nobelpreis. Als Referent des Abends konnte der Physiker und Wissenschaftshistoriker Dr. Horst Kant vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, gewonnen werden.
Für den Frankfurter Otto Hahn, der unter anderem in Marburg studierte, war Bad Nauheim vertrautes Terrain. Er war Schriftführer der hier stattgefundenen 86. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte im September 1920, an der auch Lise Meitner und Albert Einstein teilnahmen. Wir wissen auch, dass er sich in den Nachkriegsjahren mehrfach im Kerckhoff-Institut aufhielt. Das begründete sich einerseits mit seinem Interesse an der Entwicklung eines micro-atomar betriebenen Herzschrittmachers und ergab sich anderseits aus seiner Funktion als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft von 1948 bis 1960.
Er hat sich dem Kerckhoff-Institut gegenüber ausgesprochen wohlwollend verhalten. Als der Lehrbetrieb am Institut für Physiologie der Gießener Universität 1957 aus Raumnot fast zu erliegen kam, erlaubte er es den Lehrbetrieb nach Bad Nauheim zu verlegen.
Sorgen vor der Atombewaffnung
Anläßlich der Veranstaltung am 20. Juni 2016 werde ich als Mitglied der AG Geschichte und Leiter des Abends und auf einen in Bad Nauheim gänzlich unbekannten, aber für die Stadtgeschichte wichtigen Sachverhalt hinweisen, der mir 1990 von einem befreundeten Kernphysiker zugetragen wurde.
Am 12./13. April 1957 fand in Bad Nauheim eine Tagung des Fachausschusses „Kernphysik und kosmische Strahlung“ der „Deutschen Physikalischen Gesellschaft“ im Kerckhoff-Institut statt. Mitglieder dieses Fachausschusses hatten den Nobelpreisträger Werner Heisenberg sowie den bedeutenden Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker gebeten, nach Bad Nauheim zu kommen, um hier über seinen und Otto Hahns Entwurf einer Erklärung gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr zu diskutieren.
Am Rande dieser Tagung trafen sich spät abends am 11. April 1957 bedeutende Wissenschaftler im Hotel Malepartus (Alicestraße 5, Ecke Stresemannstraße), um ihrer Sorge vor der atomaren Bewaffnung Ausdruck zu verleihen. Sie diskutierten und ergänzten ein Papier, das als ‚Göttinger Erklärung der Achtzehn‘ weltweit Aufmerksamkeit erlangte und in Bonner Regierungskreisen große Empörung auslöste. Franz Josef Strauß bezeichnete Otto Hahn als „alten Trottel, der die Tränen nicht halten und nachts nicht schlafen kann, wenn er an Hiroshima denkt!“
An dem Abendgespräch nahmen Carl Friedrich von Weizsäcker und andere bedeutende Physiker teil, deren Namen aber heute nicht mehr feststellbar sind, da es sich um einen informellen Kreis handelte, der kein offizieller Bestandteil der Physikertagung war. Ob Heisenberg an der Abendrunde teilnahm ist umstritten. Das gilt ebenso für den Nobelpreisträger Max Born, der zu den Unterzeichnern des Appells gehörte und bereits 1920 an der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Bad Nauheim teilgenommen hatte. Recherchen ergaben, dass Born vom 11. auf den 12. April im Hotel Bristol übernachtete.
Gegen 24 Uhr informierte Carl Friedrich von Weizsäcker vom Hotel aus telefonisch den Präsidenten der Max Planck-Gesellschaft Otto Hahn in Göttingen und las ihm den Text der Erklärung vor. Weizsäcker erklärte, dass alle bedeutenden „Physiker, mit denen er gesprochen habe, mit der Veröffentlichung der Erklärung einverstanden seien“ (nach Klaus Hofmann, Schuld und Verantwortung: Otto Hahn. Konflikte eines Wissenschaftlers). Daraufhin gab Otto Hahn den Text frühmorgens an die Presse weiter. Schon einen Tag später berichtete die Weltpresse über den Appell, so auch die Wetterauer Zeitung am 13./14. April auf Seite 1 oben, allerdings ohne das inoffizielle Abendgespräch zu erwähnen. Davon wußte niemand in den Redaktionsbüros der Presse. Erst Jahre später wies Carl Friedrich von Weizsäcker, Bruder des späteren Bundespräsidenten, in einem Interview darauf hin, dass Bad Nauheim die eigentliche Geburtsstätte des Göttinger Appells gewesen sei.
Bad Nauheimer Friedensappell
Seit jenen Tagen 1957 nennt sich dieser historisch bedeutsame Appell ‚Göttinger Erklärung der Achtzehn‘. Korrekterweise aber mußte er ‚Bad Nauheimer Friedensappell‘ heißen. Er wurde hier diskutiert und beschlossen. Das Göttinger Büro von Otto Hahn diente nur als Verteilstelle. Das aber reichte der Presse, von der ‚Göttinger Erklärung‘ zu sprechen. Es gab ja schließlich schon einmal eine ‚Göttinger Erklärung‘, die aus dem Jahre 1837, in der sieben mutige Professoren, darunter die Gebrüder Grimm, gegen den Verfassungsbruch des hannoverschen Königs protestierten. Von den 18 Unterzeichnern des Jahres 1957 lehrten nur vier an der Göttinger Universität. Aus Göttingen nahmen lediglich Carl Friedrich von Weizsäcker, Werner Heisenberg und wahrscheinlich Max Born an der Abendrunde im Hotel Malepartus teil. Die anderen 15 Unterzeichner kamen von anderen deutschen Universitäten.
Diese Begebenheit deutscher Geschichte ist auch stadtgeschichtlich bedeutsam. Das sollte Grund genug sein, an den ‚Aufstand des Gewissens‘ deutscher Naturwissenschaftler mit einer Gedenktafel am Haus Alicestraße 5 zu erinnern. Der Hausbesitzer hat zustimmend auf diese Idee reagiert. Auch die Stadtführer sollten bei ihren Rundgängen auf die jetzt bekannte historische Situation hinweisen.
„Otto Hahn“, Vortragsreihe Geschichte mit Dr. Horst Kant, Montag, 20. Juni 2016, 19:30 Uhr Gemeindezentrum Wilhelmskirche, Wilhelmstraße 12, 61231 Bad Nauheim. Eintritt: 5 Euro