Starke Schau im Sinclair-Haus
Von Klaus Nissen
Was ist Natur? Nur der Primärwald am Amazonas? Unbebautes Land, oder auch Maisfelder und sich selbst überlassene Gebiete in Städten und am Rand von Flughäfen? Wenn wir von Natur reden, dann geht es immer auch um das Verhältnis des Menschen zur Welt. Eine Ausstellung im Sinclair-Haus in Bad Homburg zweigt, dass die Natur unendlich vielfältiger ist als unsere Vorstellung von ihr. Wer den Fuß über die Schwelle an der Löwengasse 15 (Ecke Dorotheenstraße) setzt, hat eindrucksvolle Momente.Natur ist auch der Kosmos unterm Lindenblatt
Im ersten Raum die erste Irritation: Da liegen nur Computermäuse im Halbdunkel auf dem Fußboden. Was hat das mit Natur zu tun? Die Schrifttafel belehrt mich: Das sind keine Mäuse, sondern Apparate, die das Duftmolekül Geosmin freisetzen. Ein tiefer Luftzug durch die Nase sagt mir erst jetzt, dass es nach Waldboden riecht. Gerüche sind im Alltag kaum noch relevant, also wird nicht mehr geschnüffelt.
Und dann erklärt die Geruchsforscherin Sissel Tolaas, dass der Wald-Geruch ein 500 Millionen Jahre altes Kommunikationsmittel ist. Streptomyces-Bakterien setzen das Geosmin bei ihrer Sporenproduktion frei. Der Duft lockt Springschwänze an – kleine Insekten, die die Streptomyces-Sporen im Waldboden verteilen.
Schon sechs Milliarden Jahre gibt es die Sonne. Im Nebenraum dreht sie sich auf Menschengröße verkleinert langsam um sich selbst, umgeben von dunkelroten Flares, die vergeblich der Schwerkraft zu entkommen versuchen. So etwa sähe man die Sonne von der Venus aus, wenn die Augen den Anblick ertrügen. Katharina Sieverding hat unseren Mutterstern aus mehr als 200 000 hochauflösenden NASA-Fotos zusammengesetzt. Man sitzt davor auf einer Bank und lässt sich von diesem höllischen und zugleich ruhig drehenden Gestirn hypnotisieren.
Die Natur dreht rechts
Natur ist rechtsdrehend, lernen wir ein Stück weiter. An der Wand flimmert der Film „Das Blumenwunder“ von Max Reichmann aus dem Jahr 1926. An einer Stange wächst im Zeitraffer eine Malve (?) empor. Sie dreht sich stets rechts um den Stock nach oben, obwohl der nach links dreht. Selbst wenn der Trieb von Hand eine Linksdrehung bekommt, sucht die Pflanze sie hartnäckig nach rechts zu korrigieren.
Auch der Frankfurter Flughafen ist ein Stück Natur, behaupten die Ausstellungs-Kuratorinnen Kathrin Meyer und Ina Fuchs. Da ist die Astgabelung aus einer Baumkrone vom Rande des Flughafens herausgesägt. Mitsamt dem Elster-Nest im Winkel. Es besteht aus Zweigen, aus Kabeln, Drahtstücken und Plastikfäden. Der Biologe David Haskell sieht darin veranschaulicht, dass Natur, Mensch und Technik von Grund auf nicht voneinander getrennt sind, sondern ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen.
Dieses Prinzip wird auch mit Exponaten und Beschreibungen der Baumhäuser belegt, die Startbahngegner 1981 in die Baumkronen am Flughafen setzten. Sie haben sich an die vorgegebenen Statiken der Bäume angepasst. Als dritter Beleg ist in der Bad Homburger Schau ein Herbarium der Senckenberg-Gesellschaft zu sehen. Mit getrockneten Exemplaren des Australischen Gänsefuß und des Kurzfrüchtigen Weidenröschens, das wohl in den Fünfziger Jahren irgendwie aus dem Gepäck amerikanischer Soldaten am Rande der Airbase gelandet und verwurzelt ist.
Weiter erfahren wir noch, was die millionenfach gepressten Monobloc-Plastikstühle mit Natur zu tun haben. Dass letztlich auch eine Atombombenexplosion ein Stück und eine Folge der Natur ist, wenn wir Menschen – was wir müssen – uns auch selbst als Teil der Natur einstufen. Bruce Conners 36 Minuten langer Film mit dem wachsenden Explosionspilz über dem Bikini-Atoll aus dem jahre 1946 hat eine erschreckend ästhetische und eine ähnlich suggestive Wirkung wie die Sonne im Nachbarraum.
Eine Londoner Wohnküche im Jahr 2050
Es gibt im Geburtshaus des weiland landgräflich homburgischen Diplomaten und Hölderlin-Freundes Isaac von Sinclair (1775-1815) noch viele weitere Exponate, die unseren verengten Naturbegriff infrage stellen. Nicht gespart wird in dieser Schau mit Hinweisen darauf, dass der Mensch im wachsenden Ausmaß die Natur verändert – sich selbst eingeschlossen. Er bringt sie durcheinander, versetzt Tiere und Pflanzen, die seit Millionen Jahren voneinander getrennt waren, in neue Umgebungen. Er zerstört riesige Ökosysteme. Wenn es so weitergeht, könnte die Installation „Superflux“ zur Realität werden. Im Sinclair-Haus ist eine Wohnküche im London des Jahres 2050 zu besichtigen. Da wächst Gemüse unter violettem Licht, und ein Sprecher erzählt von Lebensmittelknappheit und harschen Umweltbedingungen.
Zugleich schafft der Mensch unbewusst neuartige kleine Biotope. Francois-Joseph Lapointe hat (vor Corona) tausend Menschen die Hand gegeben und zwischendurch Abstriche der Mikrofauna auf seiner Handfläche gemacht. Bakterien begegnen und vernetzen sich, Lapointe macht aus den Ergebnissen bizarr aussehende „Microbiome Selfies“.
Die Folgen des Anthropozäns
Und wenn wir an Straßen und in Höfe Linden pflanzen, dann schaffen wir kleine Universen. Der Phytopathologe Urs Wyss filmte mit seinem Stereomikroskop die Bewohner der Linde vor seinem Labor an der Kieler Universität. Da lernen wir die extraterrestrisch anmutende Lindenzierlaus und ihre Konflikte mit Gallmilben, Baumwanzen und Zwergwicklern so intensiv kennen, dass wir in der nächsten Zeit nicht mehr achtlos an Linden vorbeigehen können.
In Summa wird das Anthropozän zu einer wohl kurzen, Biotope schaffenden, meistens aber extrem zerstörerischen und noch nach Millionen Jahren erkennbaren und Folgen tragenden Epoche in der Geschichte dieses Planeten. Da kann einem schon mulmig werden. Und man wird dankbar, dass es vorerst noch so viele Linden gibt, unter deren Blättern sich Raubmilben und Zwergwickler tummeln.
„Was ist Natur?“ Ausstellung im Sinclair-Haus Bad Homburg, Ecke Löwengasse und Dorotheenstraße. Geöffnet bis 24. Januar 2021 Dienstag bis Freitag 14 bis 19 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen von 13 bis 18 Uhr. Eintritt 6, ermäßigt 4 Euro. www.museumsinclairhaus.de