Keine Küken für Alt-Storch Wilhelm
Von Klaus Nissen
Die inzwischen wieder gewachsene Storchen-Population im Wetteraukreis braucht keine zusätzlichen Nisthilfen und keine Fütterung mehr, sagt der Experte Udo Seum. Die Ausnahme von der Regel ist der Uralt-Storch Wilhelm in Lindheim bei Altenstadt. Weil er manchmal tote Küken bekommt, ist sein Mentor Wilhelm Fritzges mit der EU-Bürokratie in den Clinch geraten.Fütterungs-Erlaubnis kostet 71 Euro
Der vielleicht älteste Storch Deutschlands heißt Wilhelm. Seit 22 Jahren verbringt der 30-jährige Adebar auch die Wintermonate in und bei Lindheim. Überlebt hat er nur, weil ihn der langjährige frühere Ortsvorsteher und NABU-Kreisvorsitzende Wilhelm Fritzges bei Eis und Schnee mit toten Eintagsküken fütterte. Das ist jetzt aber zu einem komplexen bürokratischen Akt mit recht hohen Kosten geworden. Die Sache ging schief. Fritzges fühlt sich nun in seiner Ehre verletzt. Und Storch Wilhelm ahnt nicht, welche Komplikationen die Beschaffung seiner Notrationen für den nächsten Winter mit sich bringt.
Der alte Storch wuchs einst im Neu-Anspacher Hessenpark auf und lernte nie, wie seine Artgenossen im Herbst über Frankreich und Spanien nach Afrika zu fliegen. Stattdessen wohnt Wilhelm das ganze Jahr auf auf dem Schornstein der ehemaligen Schnapsbrennerei des Hofguts Westernacher, mitten in Lindheim. Mit seiner Partnerin Wilhelmine und später mit Wilma zog Wilhelm mittlerweile 57 Jungstörche auf. In diesem Jahr waren es drei. Jeder kann das Paar und seinen Nachwuchs dabei auf der Webseite www.vogelschutz-lindheim.de/storchenkamera beobachten.
Im Mai und Juni merkte Wilhelms Mentor Wilhelm Fritzges, dass mit dem Storch etwas nicht stimmte. „Er konnte nur mit Schmerzen landen und hat gehumpelt“, berichtet der 79-jährige Vogelschützer. Vielleicht hatte sich Wilhelm am linken Knie verletzt. „Es könnte auch Arthrose sein, sagte ein Storchen-Doktor, dem wir Videos mit Wilhelm geschickt haben.“ Fritzges beschloss, den Altstorch außer der Reihe zu füttern. Denn wenn Wilhelm ausfiele, hätte Wilma allein die drei Jungstörche wohl nicht ernähren können. Jeder von ihnen vertilgt bis zur Flugreife etwa 39 Kilo Regenwürmer oder 19 Kilo Feldmäuse, schätzt Fritzges. „Ich konnte ja die Brut nicht kaputt gehen lassen.“
Der Vogelschützer rief bei der Wetterauer Zoohandlung an, die ihm normalerweise tiefgefrorene männliche Eintagsküken für die Winterfütterung verkauft. Nur an Frost- und Schneetagen braucht der Storch jeweils zehn aufgetaute Küken, um über die Runden zu kommen. Doch diesmal bekam Fritzges kein Futter. Wegen der EU-Verordnung 1069/2009 könne Fritzges die toten Küken nur bei Angabe einer amtlichen Registriernummer bekommen.
Am 25. Mai beantragte Stefan Weitzel, der Vorsitzende der Natur- und Vogelschutzgruppe Lindheim, diese Registriernummer beim Staatlichen Veterinäramt in Friedberg. Das stufte die Vogelschützer als Unternehmen ein, das alle Vorschriften der „Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsverordnung“ (TierNebV) zur Durchführung des Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetzes in der Fassung vom 4. Dezember 2018 (Bundesgesetzblatt I, Seite 2254) genau einhalten muss. Beispielsweise müsse bei der Beförderung der toten Küken stets ein spezielles Handelspapier in mindestens dreifacher Ausfertigung beiliegen. Am 18. Juni sandte das Veterinäramt den Lindheimer Vogelschützern die 13-stellige Registriernummer und verlangte dafür eine Gebühr in Höhe von 71 Euro. Sie basiert darauf, dass jede Viertelstunde der Arbeitszeit eines Beamten des gehobenen Dienstes mit 17,75 Euro anzusetzen sei.
Wilhelm Fritzges und seine Freunde von der Vogelschutzgruppe wandten ein: Es gehe doch nur darum, den Altstorch Wilhelm über eine Schwächephase und über den nächsten Winter zu helfen. Das Veterinäramt möge bitte die Gebühr erlassen. Es gab auch ein Telefonat mit dem zuständigen Veterinär, berichtet Fritzges. Dabei habe er selber seinen Frust über die Verbürokratisierung und Verteuerung einer simplen Storchenfütterung recht deutlich formuliert. Das war eher kontraproduktiv. Am 10. Juli beschied die Erste Kreisbeigeordnete und Wetterauer Naturschutz-Dezernentin Stephanie Becker-Bösch dem Vogelschützer „nach Beteiligung der zuständigen Fachstelle und einer gründlichen Evaluation“: Die 71-Euro-Gebühr sei zu entrichten.
„Hier wird das Ehrenamt schikaniert!“
Das machte Fritzel richtig sauer. Seit 1973 kümmere er sich um die Störche und andere gefährdete Vogelarten in der Region. Die Natur- und Vogelschutzgruppe habe in tausenden Arbeitsstunden und für tausende Euro Teiche angelegt und Feuchtwiesen gekauft. Immer wieder seien den Vogelschützern dabei von Ämtern bürokratische Hürden gelegt worden. „Überall wird das Ehrenamt gelobt – aber hier wird es schikaniert!“ schimpft Fritzges. Die 71-Euro-Gebühr habe das Fass zum Überlaufen bringen lassen. Er wolle sie nicht zahlen. „Mir geht es hier ums Prinzip!“ Den Antrag auf Erteilung einer Registriernummer nach der TierNebV zog Fritzges am 25. Juli zurück. Vermutlich wird das Veterinäramt trotzdem auf Zahlung der Gebühr bestehen, denn der Verwaltungsaufwand war ja da.
Dem Altstorch Wilhelm geht es derweil besser – sein linkes Knie scheint nicht mehr zu schmerzen. Und im nächsten Eiswinter will Fritzges ihn wieder füttern. Die toten Küken werde er schon bekommen – „Ich hab so viele Freunde, die mir helfen.“