Vor den Augen der Welt
Von Michael Schlag
In seinem Buch „Vor den Augen der Welt – Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine“ schildert Simon Shuster den Morgen des russischen Überfalls und das ganze folgende Jahr des Präsidenten der Ukraine aus bisher nicht bekannter Nähe.Widerstand zwecklos – oder?
„Natschalos“. Es ist der 24. Februar 2022, morgens 04:30 Uhr. Natschalos ist russisch und bedeutet „es hat begonnen“. Wolodymyr Selenskyj sagt das Wort zu seiner Frau, bevor er mit einer Wagenkolonne abgeholt wird zu seinem Dienstsitz. In den nächtlichen Straßen Menschen auf der Flucht, „Selenskyjs Leibwächter wussten nicht, ob russische Saboteure eines der am Straßenrand geparkten Autos mit Sprengstoff beladen hatten“. Schon Tage zuvor hatte der ukrainische Geheimdienst drei Gruppen von Attentätern aufgespürt, die den Auftrag hatten, Selenskyj zu töten und „in jenen ersten Stunden der Invasion konnten niemand sagen, ob Selenskyj und sein Team durchhalten würden“, schreibt Simon Shuster, Korrespondent des Time Magazine, in seinem Buch.
Die Geheimdienste der Welt waren sich doch einig: Bei einem russischen Angriff würde Kiew innerhalb weniger Tage überrannt, die Regierung abgesetzt, der Präsident festgenommen oder ermordet. Die Geschichte bot genug Beispiele: 1956 brauchten die sowjetischen Streitkräfte keine vier Tage, um die ungarische Hauptstadt zu besetzen und die Regierung zu stürzen, 1968 war Prag innerhalb von zwei Tagen eingenommen, 1979 innerhalb von Stunden der Präsidentenpalast in Kabul gestürmt und der Staatschef liquidiert. Viele Regierungsvertreter waren bereits auf und davon zur westlichen Grenze und die Meinung war verbreitet „Widerstand ist zwecklos.“
Auch für Selenskyj gab es Fluchtangebote von allen Seiten: das Land verlassen, eine Exilregierung bilden. Der Erste, den Selenskyj anrief, war Boris Johnson in London. Aus Großbritannien hatte die Ukraine in den Wochen zuvor größere Waffenlieferungen, darunter Panzerabwehrraketen erhalten und jetzt sagte Selenskyj: „Wir werden kämpfen, Boris, wer werden nicht aufgeben.“ Shuster schildert die Bedrohung an diesem Morgen: Russische Kampfjets über dem Haus seiner Familie, „Olena und die Kinder liefen um ihr Leben“, und eine hartnäckige Warnung besagte, dass jederzeit eine Welle russischer Fallschirmjäger im Herzen der Hauptstadt landen könnte. In Vorbereitung für einen Guerillakrieg gaben Militär und Polizei Sturmgewehre an die Bevölkerung aus.
Sein Schauspieler-Instinkt ist von Vorteil
Woher nahm der Präsident, gerade 44 Jahre alt geworden und keine drei Jahre im Amt, den Mut und die Standhaftigkeit? „Seine kurze Karriere als Staatsmann hatte ihn kaum auf diesen Moment vorbereitet, doch sein Instinkt als Schauspieler war durchaus von Vorteil.“ Und diesen Instinkt nutzte er in einmaliger Art, blieb nicht im Bunker, sondern ging am Abend draußen auf die Straße vor dem Präsidentenpalast. Shuster beschreibt die Szene so: „Leibwächter leuchteten mit Taschenlampen durch die dunklen Gänge, die Sicherheitsleute, deren Gesichter mit grünen Sturmhauben bedeckt waren, bildeten einen lockeren Kreis um ihn und beobachteten die Fenster und Dächer. Ihr Atem als Dunst unter den Straßenlaternen, orangefarbenes Licht auf ihren Gesichtern. Selenskyj hält das Handy vom Körper weg, drückt Aufnahme.“ Fünf seiner engsten Berater stehen hinter ihm und füllen das Bild. Selenskyj nennt ihre Namen und sagt: „Wir alle sind hier, wir werden unser Land verteidigen“. Eigentlich eine wahnwitzige, lebensgefährliche Aktion, hier kann man sie noch einmal ansehen:
Damit begann die größte Rolle des ungemein erfolgreichen Schauspielers, Comedians und TV-Produzenten, und in dieser Rolle wurde er jetzt gebraucht wie nie. Aufgestiegen war er in einer TV-Show namens KVN, dem „Klub der Lustigen und Einfallsreichen“ mit seiner Comedy-Truppe „Kvartal 95“. Freche, aber unpolitische Fernsehunterhaltung, teils reiner Klamauk, jeden Samstag-Abend in der Ukraine und in Russland zu sehen. Ausschnitte den Sendungen findet man bis heute im Netz:
So einen Präsidenten wünschte sich die Ukraine
Und jetzt wirft Selenskyj seine ganze Berühmtheit und sein Können als Fernsehstar ins Gefecht. „Viele westliche Staats- und Regierungschefs hätten es vermutlich vorgezogen, eine neutrale Haltung einzunehmen“, schreibt Shuster, Europa war schließlich auf Öl, Gas, Metalle und Mineralien aus Russland angewiesen. „Aber Selenskyjs Widerstand und die Medienwirksamkeit seiner Appelle warfen ein schlechtes Licht auf Politiker, die sich weigerten, ihm zu helfen.“ Selenskyj und sein Team hatten jahrelange Erfahrungen im Showgeschäft, „sie wussten, wie man ein Publikum inspiriert und fesselt, und sie sahen darin eine ihrer wichtigsten Aufgaben.“ Den größeren Teil seiner Fernsehkarriere war Selenskyj vollkommen unpolitisch, der überwiegende Anteil seiner Einnahmen stammte aus Russland. Aber nach der Annexion der Krim 2014 schloss seine Produktionsfirma ihr Büro in Moskau und beendete die Zusammenarbeit mit russischen Partnern. Ab Sommer 2014 machte er Tourneen durch das Kriegsgebiet im Donbass. 2015 erschien dann die erste Staffel der Serie „Diener des Volkes“ vom Lehrer, der ohne eigenes Zutun und in grenzenloser Naivität Präsident der Ukraine wird, als einfacher Mensch die Nöte der anderen kennt und vor allem die Korruption bekämpft. Die Serie ist großartig gespielt und zum Lachen (nur leider bleibt einem das Lachen heute allzu oft im Halse stecken). Man kann sie weiterhin auf Netflix sehen.
https://www.netflix.com/de/title/80119382
Für Selenskyj war es der Einstieg in die Politik, so einen Präsidenten wünschte sich die Ukraine. Sogar während des Wahlkampfs 2018 lief die neue Staffel mit dem bescheidenen und gutherzigen Politiker im Fernsehen „und verleitete das Publikum, Selenskyj mit der von ihm gespielten Figur gleichzusetzen“, wie Shuster schreibt. Und dann verschmolzen Person und Rolle tatsächlich. Die Verteidigung von Kiew, die Vertreibung der russischen Invasionsarmee aus dem Norden der Ukraine im April 2022, es war das Verdienst der ukrainischen Armee, aber „Selenskyj hat mit seinen Fähigkeiten als Kommunikator ebenfalls eine entscheidende Rolle gespielt“. Denn er und sein Team sicherten den Nachschub an Waffen aus dem Westen, die das Militär brauchte, um sich zu behaupten. Das ganze Frühjahr 2022 hielt Selenskyj im Durchschnitt jeden Tag eine Rede, per Videoschaltung in aller Welt: vor dem südkoreanischen Parlament, bei der Weltbank, im US-Kongress, im Deutschen Bundestag, bei der Verleihung der Grammy Awards. Jede Rede immer sorgfältig auf das betreffende Publikum abgestimmt.
9. November 2022, Rückzug der Russen aus dem befreiten Cherson, damit endet das Buch. Simon Shuster begleitet Wolodymyr Selenskyj im Zug von Kiew nach Cherson, wo der Präsident sich gegen jede Vernunft und ohne Helm den Menschen auf der Straße zeigt – und zuerst nach WLAN fragt und sein Handy zückt. Welche Vorbilder hat Selenskyj, fragt ihn der Korrespondent auf der Rückfahrt, Winston Churchill vielleicht? Nein, nein, ganz sicher nicht, sagt Selenskyj, wenn, dann eher Charlie Chaplin, „weil er während des Zweiten Weltkriegs Informationen als Waffe einsetzte, um gegen den Faschismus zu kämpfen. Es gab solche Menschen, solche Künstler, die der Gesellschaft halfen.“
Simon Shuster: „Vor den Augen der Welt – Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine“ (Titel der Originalausgabe: The Showman), Verlag Goldmann, 2024, ISBN 978-3-442-31724-0. 528 Seiten, 26 Euro
Blick ins Buch: https://www.bic-media.com/mobile/mobileWidget-jqm1.4.html?isbn=9783442317240
Leseprobe: https://content.penguinrandomhouse.de/content/edition/excerpts/1074002.pdf