Stadt Gießen unterliegt beim VGH
Ein aktuelles Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH), das Gießen betrifft, sorgt für überregionale Aufmerksamkeit: Demnach sei der von der Stadtverwaltung auf den Weg gebrachte Verkehrsversuch rechtswidrig.Urteil mit Spannung erwartet
Mit Spannung war das Urteil, das im verwaltungsgerichtlichen Instanzenzug nicht anfechtbar ist, von der Öffentlichkeit erwartet worden. Denn der Verkehrsversuch, der die Innenstadt vom Massenstraßenverkehr entlasten soll, wird von der Bevölkerung Pro und Kontra diskutiert, zumal es während der laufenden Bauarbeiten so manchen Stau gibt.
Pressetext des VGH
In dem Pressetext des VHG, der öffentlich einsehbar ist, heißt es: Die Stadt Gießen beabsichtigt die Verkehrsführung auf dem Anlagenring um die Innenstadt in mehreren Abschnitten umfassend zu ändern, insbesondere eine zweispurige Fahrradstraße einzurichten. Im Zuge der ersten Umbauphase für den Verkehrsversuch traf die Stadt Gießen drei verkehrsrechtliche Anordnungen, welche die Braugasse, die Landgrafenstraße und die Senckenbergstraße betreffen.
Gegen diese verkehrsrechtlichen Anordnungen haben zwei Anwohner vor dem Verwaltungsgericht Gießen einen erfolgreichen Eilantrag gestellt. Die Stadt Gießen hat gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Beschwerde erhoben. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat die Beschwerde mit Beschluss vom 29. August 2023 zurückgewiesen.
„Alternativen wurden nicht geprüft“
Zur Begründung seiner Entscheidung hat der für das Verkehrsrecht zuständige 2. Senat im Wesentlichen ausgeführt, die Anordnung eines Verkehrsversuchs erfordere nach der Straßenverkehrsverordnung die Feststellung einer Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs sowie besondere Umstände, die den Versuch bzw. dessen spätere Umsetzung zwingend erforderlich machen. Die Stadt habe weder die erforderliche Gefahr noch derartige besondere Umstände plausibel dargelegt. Sie habe sich zudem mit den Stellungnahmen des Polizeipräsidiums Mittelhessen sowie des Regierungspräsidiums Gießen, die erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit des Versuchs geäußert hätten, nicht hinreichend auseinandergesetzt.
Dies gelte auch in Anbetracht der hohen Verkehrsbedeutung des Anlagenrings für den Kraftfahrzeugverkehr und der demgegenüber derzeit geringen Nutzung durch Radfahrer. Die von der Stadt herangezogenen Erwägungen zum Klimaschutz könnten eine verkehrsbehördliche Anordnung nicht begründen, sondern allenfalls im Rahmen der Ermessenserwägungen beim Vorhandensein verschiedener Modelle zur Gefahrenbeseitigung berücksichtigt werden. (Aktenzeichen: 2 B 987/23). Soweit die Pressemitteilung des VGH.
Stellungnahme des Bürgermeisters
Von der Stadt Gießen gibt es – auch per Pressemitteilung – eine Stellungnahme: Bürgermeister Alexander Wright (Bündnis 90/Die Grünen) hat mit großem Bedauern auf den Beschluss des VGH reagiert, der dem Gießener Verkehrsversuch de facto die Rechtsgrundlage entzogen hat. Auch wenn – eng betrachtet – auf Antrag der Kläger nur entschieden wurde, die Verkehrsführung in drei Innenstadtstraßen wieder zu ändern, so sei dennoch damit faktisch der komplette Verkehrsversuch hinfällig, weil der Hof die Versuchsgrundlagen insgesamt als rechtswidrig eingestuft habe, erklärt der Bürgermeister.
„Einfache Gefahrenlage auf Anlagenring“
Der VGH sei damit nicht der Argumentation der Stadt gefolgt, die in der Beschwerdebegründung anhand von Verkehrsanalysen erläutert hatte, dass auf dem Anlagenring eine „einfache Gefahrenlage“ für Radfahrende bestehe, die zum Handeln legitimiere.
Wright kündigte daher an, den Rückbau der Einbahnstraßen-Verkehrsführung schnellstmöglich und geordnet anzugehen. Dieser kann aus Witterungsgründen, wegen der nötigen Beauftragung von Firmen und Umprogrammierungen von Ampeln bis zum Frühjahr abgeschlossen werden. Es wird aber geprüft, ob der derzeitig im Umbau befindliche letzte Bauabschnitt umgehend wieder für die ursprünglich vorhandenen Verkehrsbeziehungen geöffnet werden kann. Gleichzeitig werden die drei beklagten Einzelmaßnahmen in nächsten zwei Wochen zurückgebaut.
„Gefahrenlage für die Radler“
Bedauerlich sei, so Wright, dass die Stadt die Richter in Kassel nicht davon überzeugen konnte, dass hier auf dem Anlagenring angesichts der tatsächlichen Gefahrenlage für Radler vorausschauend gehandelt wurde: „Ich weiß nicht, wer das in Gießen bestreiten würde: Bei diesen Verkehrsmengen und Geschwindigkeiten trauen sich nur die erfahrensten Radler überhaupt auf die Straße. Das wollten wir – auch im Sinne eines geordneten und zügig fließenden Autoverkehrs auf dem äußeren Ring – ändern und müssen nun feststellen: Die derzeitigen rechtlichen Grundlagen verbieten uns das in dieser Form offensichtlich. Meine Hoffnung ist, dass unsere schlechten Erfahrungen in die bevorstehende Reform des Straßenverkehrsrechts einfließen und dass solche Gerichtsbeschlüsse künftig nicht mehr nötig und möglich sind.“
Dialog mit der Bürgerschaft angekündigt
Wright will aber bis dahin nicht untätig bleiben: „Wir werden die Zeit bis zum Rückbau des Verkehrsversuchs im Frühjahr nutzen, um im Dialog mit der Bürgerschaft andere Formen der Sicherheit für Radfahrende auf dem Anlagenring zu diskutieren und zu entwickeln. So wie es war, kann es nicht wieder werden. Es ist unsere Aufgabe, Radfahrenden in der Stadt und somit auch auf dem Anlagenring einen sicheren Weg zu bieten. Zudem möchten wir auch die Stadt insgesamt vor einem Verkehrskollaps schützen, der sich alleine schon aus der rasant wachsenden Verkehrsmenge durch wachsende Einwohnerzahlen ergibt. Dazu fühlen wir uns als Verkehrsplaner auch verpflichtet.“
„Herausfinden, was uns verbindet“
In die Planung, wie die Sicherheit des Radverkehrs und die Erschließung der Innenstadt für den motorisierten Verkehr und ÖPNV gleichermaßen rechtskonform gestaltet werden könne, sollen neben verkehrlichem und juristischen Sachverstand dann auch die Erfahrungen aus der jetzigen Vorbereitungsphase einfließen. „Wir haben es mit dem Motto ernst gemeint: Herausfinden, was uns verbindet. Und wir haben jetzt schon erfahren, dass es viele Menschen gibt, die ein Weiter-so nicht richtig finden. Menschen, die auch Hoffnung auf attraktivere Lebensbedingungen in den Städten wünschen. Menschen, die Veränderungen offen gegenüberstehen – unabhängig davon, ob sie ein Auto nutzen müssen oder ausschließlich zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind.
„Auf der anderen Seite akzeptieren wir das Gerichtsurteil und nehmen auch die Gegenbewegungen wahr. Nun geht es darum, die rechtlichen Rahmenbedingungen, die verschiedenen Interessen in der weiteren Planung zu moderieren und zu berücksichtigen“, unterstreicht der Bürgermeister.
Einige Hintergrunderläuterungen der Stadt
Anwohner haben die Anordnung von drei einzelnen Verkehrsregelungen im Zuge des Verkehrsversuchs beklagt: Braugasse sollte wieder Einbahnstraße werden, Senckenbergstr. sollte wieder als Einbahn vom Brandplatz aus befahren werden können, Landgrafenstr. sollte wieder geöffnet werden.
Das Verwaltungsgericht Gießen hatte festgestellt, dass es für diese Anordnungen im Zuge des Verkehrsversuchs keine ausreichende Begründung gab. Insbesondere habe es an der notwendigen Darstellung der einfachen Gefahrenlage als Voraussetzung für die Anordnung gefehlt.Mit einer Beschwerde beim VGH sollte diese Lücke gefüllt werden.
Die Stadt hatte darin u.a. die Ausgangslage der Verkehrssituation anhand einer umfangreichen Auswertung (Bestandsanalyse) von Verkehrsdaten auf dem Anlagenring vor dem VV dargestellt: Daraus ging insbesondere hervor, dass zu Verkehrsspitzenzeiten am Nachmittag an Werktagen bis zu 2.200 Autos pro Stunde auf Teilen des Anlagenrings (insbesondere auf der Nordanlage) unterwegs sind. Die Geschwindigkeit ist mit durchschnittlich 50 km/h vergleichsweise hoch. Die Daten stammen aus den vorbereitenden Untersuchungen aus den Jahren 2020 und 2021.
Mit diesen Belastungszahlen zusammen mit der ermittelten Geschwindigkeit wollte die Stadt beweisen, dass die Gefahrenlage für den Radverkehr vorhanden ist: So führten, so die Argumentation, alleine diese Werte schon dazu, dass auf dem Anlagenring entsprechend der Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA 2010) der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen der Radverkehr vom Autoverkehr aus Sicherheitsgründen getrennt werden muss. Die Trennung der Verkehre sei daher zwingend geboten. Dieser Argumentation ist das VGH nicht gefolgt