Tag der Literatur 2019

Büchner in Gießen

von Ursula Wöll

Der Europa-Wahltag war zugleich „Tag der Literatur“ in 60 hessischen Orten. So auch in Gießen. Hier studierte Georg Büchner 1833 und 1834 Medizin. Und hier schrieb er die Flugschrift ‚Der Hessische Landbote‘, die der Butzbacher Rektor und Pfarrer Dr. Friedrich Ludwig Weidig sprachlich überarbeitete. Was lag da näher, an den Lebenslauf Büchners zu erinnern und aus seinen Werken zu rezitieren? Und das, obwohl Büchner kein gutes Haar an der Stadt ließ, der er Mittelmäßigkeit bescheinigte.

Büchner kannte den Botanischen Garten

Als eine grandiose Kritik an der Hierarchie der Feudalgesellschaft ist ‚Der Hessische Landbote‘ bis heute berühmt. Damals sollte er vor allem der Landbevölkerung die Augen öffnen und sie zum Handeln bewegen. Generell gesehen ist die Schrift ein Beispiel für das Bemühen, gesellschaftliche Verbesserungen anzustoßen. Der Titel ‚Der Neue Landbote‘ dieser Internet-Zeitung ist eine Hommage an diese Intention. Der Gießener „Tag der Literatur“ war im Botanischen Garten. Das machte ihn ganz unvergesslich, stimmten doch auch die Vögel in das Lob Büchners mit ein.

Die Gießener Universität entstand 1607, der Garten wurde bereits 1609 als Hortus Medicus angelegt. Obwohl später erweitert, hat er heute auch nur 3,5 Hektar Fläche. Ein kleines grünes Paradies mitten in der Stadt. Umgeben von Zitronenbäumen und Bananenstauden, unter einem riesigen Gingko-Baum und den ebenso riesigen beiden Platanen versammelten sich also am 26. Mai etwa 60 Personen. Sie wollten von Holger Laake, dem Technischen Direktor des Botanischen Gartens und der Literaturhistorikerin Dr. Marlies Obier etwas über Büchner und auch einiges von Büchner hören. Gingko und Platanen sind über 200 Jahre alt. Georg Büchner hat sie also als junge Bäume gekannt. Als Medizinstudent musste er sicherlich den Garten mit seinen Heilpflanzen besuchen. Zu seinem Leidwesen hatte er von der Uni Straßburg nach Gießen wechseln müssen, weil Landeskinder des Großherzogtums nur hier ihren Uni-Abschluss machen durften. Er immatrikulierte sich am 31. Oktober 1833 und wohnte unweit vom Botanischen Garten im Seltersweg.

Die Lesung im Botanischen Garten. (Fotos: Ursula Wöll)

In Gießen ist Büchner alles eng und klein

Um 1830 hatte Gießen gut 5000 Einwohner. „Hier ist alles so eng und klein, Natur und Menschen“, schreibt Büchner nach Straßburg. Und als Nachsatz: „Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten ihre Affenkomödie spielen.“ Durch August Becker lernt er den Butzbacher Rektor und Pfarrer Dr. Friedrich Ludwig Weidig kennen. Man gründet die glandestine ‚Gesellschaft der Menschenrechte‘. Man trifft sich an der Badenburg nördlich von Gießen, weil hier das Rauschen eines Lahn-Wasserfalls das Spitzeln erschwert. Man verfasst die Flugschrift „Der Hessische Landbote“ und gibt sie 1834 zum Druck nach Offenbach. Überschrieben ist sie mit der bekannten Parole: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ Gleich am Anfang des umfangreichen Textes stehen sprachgewaltige unvergessliche Sätze, wie etwa diese Passage: „Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug, er nimmt das Korn und lässt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag. Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen.“

Der Student Minnigerode wird am Selterstor verhaftet, als er einen Stapel der Schrift nach Gießen schmuggeln will. Weidig wird versetzt und dann verhaftet. Er kommt 1837 im Gefängnis um. Georg Büchner flieht nach Darmstadt in sein Elternhaus und bald zurück nach Straßburg, wo das Atmen leichter fällt und wo seine Verlobte Minna wohnt. Später geht er nach Zürich an die Universität, die ihn promoviert hat. Doch hier stirbt Georg Büchner mit nicht einmal ganz 24 Jahren. Wer alles differenzierter lesen will, ist mit dem Buch von Frederik Hetmann, im Jahr 2012 zusammengestellt für alle Giessener Schulen, gut bedient. Natürlich auch mit dem Buch „Auf den Spuren des Landboten“, das die RedakteurInnen des ‚Neuen Landboten‘ zusammengestellt haben.

Und heute?

Der damalige Feudalismus ist Geschichte. Auch der Kolonialismus, der mit der Invasion Algeriens durch Frankreich und Indiens durch die Briten bereits zu Büchners Zeiten Fahrt aufnahm. Auf dem Papier sind alle Länder unabhängig. De facto gibt es jedoch weiter enorme Abhängigkeiten des armen ‚globalen Südens‘ vom reichen ‚globalen Norden‘. Der letztere nimmt das Korn und lässt dem ersteren de Stoppeln. Man denke nur an die von den reichen Ländern exportierten hoch subventionierten Produkte, die die einheimischen Märkte kaputt machen. Man denke an den Abfall- und Schrotttransport in die armen Länder. Man denke an die Klimakatastrophen, die der globale Norden nahezu allein verantwortet und die sich im globalen Süden schon heute verheerend auswirken. Gerade höre ich, dass in Angola schon mehrere Regenzeiten ausfielen, so dass Mensch und Tier von Hunger bedroht sind. Für mich ist der in Gießen entstandene „Hessische Landbote“ daher nicht nur ein literarisch zu goutierendes Ereignis und eine Darstellung der historischen Feudalgesellschaft. Im globalen Maßstab existieren die Abhängigkeiten der Armen von den Reichen auch heute noch. Ja, selbst innerhalb der einzelnen Länder ist das soziale Gefälle nicht beseitigt.

2 Gedanken zu „Tag der Literatur 2019“

  1. Ein sehr guter Beitrag und eine hervorragende Darstellung der
    Historien: Die Verhältnisse zu Lebzeiten des Georg Büchners übergeleitet in unsere neue Zeit mit ihren Abhängigkeiten unter neuen Herren. Die Jahrhunderte sind vergangen, die Situation der Entwicklungsländer entspricht dem Leben des Bauern in Hessen vor fast 200 Jahren.
    Danke Ursula für diesen Beitrag.

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