StadtLabor

Das Bewusstsein der Stadt Gießen

Von Jörg-Peter Schmidt

Bis zum 18. August 2019 ist im Oberhessischen Museum im Alten Schloss am Brandplatz in Gießen unter dem Titel „Orte und Bewusstsein einer Stadt“ eine sehr beachtete Ausstellung zu sehen: In der Reihe „StadtLabor“ werden Exponate gezeigt, von denen viele von der Bevölkerung zur Verfügung gestellt wurden; die Beteiligung der Bürger ist Ziel von „StadtLabor“. Als gebürtiger, langjähriger Gießener (Jahrgang 1953) interessiert mich dieser Einblick in die Geschichte meiner Stadt; behandelt werden die Themen „Hessische Erstaufnahmeeinrichtung“, „Industriebrache Gail“, „Gießen als Universitätsstandort“ und „Das ehemalige Depot der US-Army“. Ich habe die Vernissage besucht. Nachfolgend meine Eindrücke.

Weltoffen und tolerant?

Der Netanya-Saal im Alten Schloss ist dicht gefüllt, als zum Auftakt Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz,  Dr. Katharina Weick-Joch (Leiterin des Oberhessischen Museums) und Jörg Wagner von der Steuerungsgruppe des Projektes  „StadtLabor“ die Gäste begrüßen, darunter Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich (seine Behörde hat Exponate zur Verfügung gestellt).  Im Mittelpunkt der Ansprachen steht  der Stolz auf die fast 90.000 Einwohner zählende Stadt. Zu Beginn waren aktuelle Tonbandaufnahmen zu hören, auf denen Bürgerinnen und Bürger kurz schilderten, was ihnen an Gießen gefällt: Die Stadt sei weltoffen, viele Gießenerinnen und Gießen seien tolerant, zudem stimme das kulturelle Angebot, so einige der Fazits.

An dieser Stelle meine erste Zwischenbemerkung: Auch ich mag Gießen, zumal sich das Angebot an Freizeiteinrichtungen , in der Gastronomie und im Kultur- und Sportbereich weiterhin verbessert hat. Aber ist man in Gießen wirklich so weltoffen, so tolerant? Da habe ich eher zwiespältige Gefühle. Einerseits gibt es in unserer oberhessischen Metropole zahlreiche Bürger, die sich für Integration engagieren. Anderseits gibt es leider auch viele Menschen, die eher dem rechtsreaktionären Spektrum zuzuordnen sind. Und nicht vergessen habe ich die öffentliche Blamage, als es im Stadtparlament ein peinliches politisches Hick-Hack gab, bevor  der hochangesehene Prof. Dr. Horst-Eberhard Richter 2007 zum Ehrenbürger ernannt wurde.

Als die Star-and-Stripes-Flagge wehte

Jörg Wagner von der Steuerungsgruppe des Projektes „StadtLabor“ würdigte die Zusammenarbeit aller, die zu der hochinteressanten Ausstellung beigetragen haben. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)

Zurück zu den Ansprachen. Wie seinen Vorrednerinnen war Jörg Wagner die Freude darüber anzumerken, wie gelungen diese dritte und letzte „StadtLabor“-Ausstellung  ist. Er dankte allen, die hierzu beitragen haben.  Im ersten Stock des Museums besuche ich zusammen mit den zahlreichen Gästen (darunter viele junge Leute) die Ausstellung. Zuerst widme ich mich dem Thema „US-Depot“. In einer der Vitrinen befindet sich die „Stars-and-Stripes“-Flagge, die täglich in der US-Kaserne gehisst wurde. Zu den Ausstellungsstücken gehören auch Bescheinigungen für die Arbeitskräfte im US-Depot, das ein Waren-Verteilungslager beispielsweise für Kleidung und Möbel  war.

Zwischenbemerkung: Was sind meine Erinnerungen an die US-Amerikaner in meiner Stadt?  In den fünfziger Jahren schlossen meine Eltern Freundschaft mit „Amis“, die uns Güter mitbrachten, die damals für viele Deutsche Luxus waren: etwa mancherlei Obst und Geflügel. Auch waren meine Eltern oft bei ihren US-Freunden zum Bingo eingeladen.  Zudem fuhren in den fünfziger und in den sechziger Jahren die typischen „Ami-Schlitten“ durch Gießen: lässig wirkende Pkw in Bonbon-Farben. Später als Jugendlicher habe ich auch durch die Freundschaft mit den US-Amerikanern fantastische Musik wie Rock, Jazz und Blues kennen gelernt. Getanzt wurde unter anderem im Woodlandclub (sogar James Brown trat dort auf).  Erhalten hat sich das Keller-Theatre. Und dann fällt mir noch ein: Viele Schülerinnen und Schüler verdienten sich im US-Depot als junge Arbeitskräfte ihr Taschengeld, das selbstverständlich auch für Schallplatten ausgegeben wurde. Wesentlich dazu beigetragen haben die US-Amerikaner, dass in Gießen Basketball populär wurde, was dann in Deutsche Meisterschaften des MTV 1846 mündete. Die Originalurkunde, die dem Team um Röder, Jungnickel, Geschwinder und Butler die erste Gießener erste Deutsche Basketball-Meisterschaft bestätigt, ist ausgestellt. Und per Knopfdruck kann man sich Videos  anschauen, auf denen  diese Gießener Basketballhelden der ersten Stunde in Aktion zu sehen sind (ich habe als Bub Röder & Co. spielen gesehen und bewundert). Noch ein Gedanke, der nicht so schön ist: Oft waren unsere Gedanken traurigerweise bei den US-Amerikanern auf ihren Standorten in aller Welt. Ein Stichwort: die vielen Toten der Vietnam-Einsätze, auch bei den US-Gegnern.

Die Studierenden

Großes Interesse finden die Ansichtskarten, die frühere Ausflugslokale zeigen (wie beispielsweise  „Zum Krokodil“)

Eine andere Abteilung der Ausstellung widmet sich dem Thema „Studentinnen und Studenten in Gießen“. 1607 wurde hier die Universität gegründet. Die Dokumente im Alten Schloss berichten nicht nur über das wissenschaftliche Leben der Studierenden, sondern auch über die Ausfluglokale, die sie besuchten. Stichworte sind hier „Krokodil“,  Lotz“ oder die  „Pulvermühle“, „Zum Andres“, viele Jahre später „Haarlem“,  „Scarabee“, „Licher Bierstube“  und „Zum Bahndamm“. Ein Original-„Pulvermühle“-Tisch ist ausgestellt. Die „Pulvermühle“ war beispielsweise das Domizil des Corps Starkenburgia. Zudem wurden Dokumentationen über die Zeit der politischen Auseinandersetzungen in den sechziger Jahren für die Ausstellung erarbeitet. Aber nicht auf frühere, sondern auch  auf aktuelle Protestbewegungen wird eingegangen: Auf dem Univorplatz stand ein Zelt zum Thema „Wohnungsnot“: Es ist in die Ausstellung integriert.

Dokumentation in Ton und Bild:  Die Zeit der politischen Auseinandersetzungen in den sechziger Jahren.

Zwischenbemerkung: Nicht nur Studenten haben in den 1960er Jahren gegen verkrustete Strukturen protestiert. Auch Schülerinnen und Schüler schlossen sich der Bewegung an. Dazu gehörte auch ich. Was die Kneipen betrifft: Meine Lieblingslokale waren das „Haarlem“ und das „Scarabee“. Im „Bahndamm“, einer der urigen Kultgaststätten,  wurde Karten gespielt. Auch erinnere ich mich an das Café Deibel beim Stadttheater. In den sechziger und siebziger Jahren habe ich mit vielen Studierenden gesprochen, die Gießen als muffig, langweilig  empfanden. Ich denke, das hat sich heute geändert: Das Angebot für Studierende ist,  wie bereits erwähnt, vielfältiger geworden, auch die gastronomische Szene  ebenso wie die kulturellen Möglichkeiten.  Zudem sind, glaube ich, „mittelgroße“ Städte wie Gießen jetzt eher geschätzt als früher. In den sechziger Jahren zog es mancher meiner Freundinnen oder Freunde in die Großstädte wie Frankfurt, Berlin oder München, wo nicht alle meiner Kumpels glücklich wurden.

Führungen geplant

Die Ausstellung widmet sich auch dem Notaufnahmelager.  Man erfährt: Allein zwischen 1946 und 1990 kamen hier rund 900.000 Flüchtlinge und Übersiedler an. Für zahlreiche Menschen war hier nach der Flucht aus der DDR ein Neuanfang. 1993 wurde diese Erstaufnahmeeinrichtung auch für Flüchtlinge geöffnet.   


Zwischenbemerkung: Leider habe ich als  Journalist auch darüber berichten müssen, wie Neuankömmlingen aus anderen Ländern der Hass der einheimischen Bevölkerung entgegenschlug. Und das war enormer Hass.

Weltweit gefragt: die Platten des Unternehmens Gail.

Großes Interesse findet auch der Teil der Ausstellung, der sich dem 1812 gegründeten Unternehmen Gail widmet: Die Kacheln dieser bedeutenden Firma kleiden beispielsweise den Elbtunnel, das Jugendstilschwimmbad in Bad Neuheim und die Schwimmbecken verschiedener olympischer Standorte, zuletzt 2008 in Peking.

Ich habe nur einen kleinen Ausschnitt der vielfältigen Dokumentationen der Gießener Stadtgeschichte beschrieben. Wie  Jörg Wagner ankündigt, wird es noch weitere Termine geben: Erste Ausstellungsführungen werden jeweils donnerstags, am 13.6., 27.6. und 11.7. 2019 um 18 Uhr angeboten. Am 30. 6. 2019 um 15 Uhr wird zudem eine Führung auf dem Gelände des früheren US-Depots durch eine ehemalige Mitarbeiterin stattfinden. Eine Stadtführung mit dem Titel „Auf der Spur der Fliesen“ findet am 14.7. 2019 um 15 Uhr statt. Geplant sind darüber hinaus eine weitere Filmvorführung mit Mario Alves (Gießen in bewegten Bildern) sowie eine Gesprächsrunde zur Abteilung Notaufnahmelager und Migration. Öffnungszeiten der Ausstellung: dienstags bis sonntags 10 bis 16 Uhr. Wichtig noch: Die Bevölkerung  kann weiterhin Exponate zur Verfügung stellen.  Mehr zu erfahren war unter www.stadtlabor@giessen.de

Letzte Zwischenbemerkung:   Wünschenswert wäre es, dass Museen, soweit es möglich ist, oft auch abends geöffnet sind. Ich bin mir sicher:  Die Besucherzahlen würden steigen.

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