Bundesgericht bremst Rewe-Projekt aus
Von KIaus Nissen
Der Bau des Rewe-Logistikzentrums bei Wölfersheim kann erhebliche Umweltauswirkungen haben. Das stellte der Vierte Senat des Bundesverwaltungsgerichts fest. Um das zu prüfen, muss sich der Kasseler Verwaltungsgerichtshof (VGH) erneut mit dem Thema beschäftigen. Rewe muss die Multi-Millionen-Investition weiter in ungewisse Zukunft vertagen.Logistikzentrum von Rewe in Wölfersheim
Nur eine Stunde dauerte Ende September 2023 der Termin im mächtigen Justizgebäude am Simsonplatz in Leipzig. Dann schickte die Vorsitzende Richterin Renate Philipp die Abgesandten des Regierungspräsidiums Darmstadt und des hessischen Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) nach Hause. Nachdem sie ihre Argumente für und gegen den Bau des Rewe-Logistikzentrums zu Protokoll gegeben hatten, wog das fünfköpfige Richtergremium sie hinter verschlossenen Türen ab.
Gegen 15 Uhr gab es dann den Umweltschützern, Landwirten und Kirchenleuten vom „Bündnis für Boden“ Anlass, Sektflaschen zu öffnen. Aus dem Bau der fast neun Hektar großen Lagerhalle im Winkel zwischen der B455 und der A45 bei Berstadt wird vorläufig nichts.
„In einer ersten Bewertung sind wir sehr froh über die Entscheidung. Sie hat eine hohe und grundsätzliche Bedeutung im Umweltrecht“, sagte Jochen Kramer vom BUND-Landesvorstand nach dem Urteilsspruch. Nun könnten Abweichungsentscheidungen von Regionalplänen gerichtlich überprüft werden.
BUND bekommt womöglich Klagerecht
Der BUND-Landesverband Hessen prozessiert gegen den nachträglichen Eintrag des Logistikzentrums in den seit 2011 geltenden Flächennutzungsplan. Das Regierungspräsidium Darmstadt RP) ist Prozessgegner, weil es die „Zielabweichung“ des Regionalen Flächennutzungsplanes genehmigt hatte.
Diese „Zielabweichung“ beantragte vor sechs Jahren die Gemeinde Wölfersheim. Die CDU-SPD-Mehrheit in der Regionalversammlung Südhessen und danach der RP genehmigten den Antrag der Wölfersheimer, die gut 25 Hektar im Flächennutzungsplan nicht mehr als Ackerland, sondern als Gewerbefläche für Logistik auszuweisen.
In der Hoffnung auf bis zu 550 neue Arbeitsplätze und hohe Steuereinnahmen kaufte die Gemeinde die Felder und reichte sie Ende 2020 für einen Millionenbetrag an den Rewe-Konzern weiter. Der stellte einen Bauantrag, der vom Wetteraukreis genehmigt wurde. Doch der BUND legte Widerspruch ein und beantragte eine aufschiebende Wirkung. Darüber soll bald der Verwaltungsgerichtshof in Kassel entscheiden. Rewe verzichtete mit Blick auf die ungewisse Zukunft des Projekts bis jetzt darauf, den Mutterboden vom Baugrundstück abzuschälen.
Das Projekt verzögert sich weiter
Mit dem Urteil erreichte der BUND, dass Umweltverbände mehr Einfluss auf „Zielabweichungen“ von Regionalplänen bekommen. Das wurde ihm bisher in zwei Instanzen verweigert. Die Bundesverwaltungsrichter urteilten nun: Eine Umweltvereinigung „kann gerichtlich überprüfen lassen, ob eine Abweichung von Zielen des Regionalplans gegen umweltbezogene Rechtsvorschriften verstößt“. Das zu prüfen ist nun Aufgabe des untergeordneten Verwaltungsgerichtshof in Kassel.
So wird der Bau des Wölfersheimer Logistikzentrums recht unsicher. Zumindest dauert es noch lange, bis er losgehen kann. Ein schriftliches Urteil werde das Bundesverwaltungsericht in einigen Wochen herausgeben, kündigte Pressesprecher Carsten Tegethoff an. Dann braucht es voraussichtlich Monate, bis ein Termin zur „Umweltverträglichkeitsprüfung“ beim VGH in Kassel stattfindet. Und wenn der Prozess ums Logistikzentrum irgendwann auf nationaler Ebene entschieden ist, kann die unterlegene Seite immer noch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg anrufen.
Dass „Zielabweichungen“ für den Regionalplan nicht mehr einfach von der Regionalversammlung durchgewunken werden können, freut Jochen Kramer vom BUND-Landesvorstand. Für den Ballungsraum Rhein-Main wurden sie in den letzten Jahren dutzendfach angewandt, um mit wenig Aufwand Bauprojekte zu genehmigen, die bei Inkraftsetzung des Flächennutzungsplanes anno 2011 noch nicht in Sicht waren. Nur einmal gab es ein richtiges Änderungsverfahren mit Offenlegungen und Öffentlichkeitsbeteiligung, erinnert sich der BUND-Anwalt Tobias Kroll. Da ging es um die Erweiterung des Kiesabbau-Gebiets am Langener Waldsee.
Im Rhein-Main-Gebiet ist der Flächennutzungsplan veraltet. Er hätte im November 2021 völlig neu aufgestellt werden müssen. Den Entwurf für den nächsten Zehnjahresplan will der Regionalverband um die Jahreswende vorlegen. Bis er in Kraft tritt, dürfte ein weiteres Jahr verstreichen.
Warum Rewe das Logistikzentrum bauen will
Sie brauchen mehr Platz für den Nachschub der vielen Rewe-Supermärkte in Mittelhessen und dem Rhein-Main-Gebiet, sagten Manager des Lebensmittel-Konzerns im Jahr 2017. Die Logistikzentren in Rosbach und Hungen seien zu klein. Man werde an der Autobahnauffahrt Wölfersheim ein neues, großes Lager bauen. Bis zu 45 000 Supermarktartikel sollen dort in täglich etwa 1100 Lastwagenfuhren an die Märkte verteilt werden.
Eine zweistellige Millionensumme dürfte der Bau kosten, der ursprünglich dieses Jahr in Betrieb gehen sollte. Geplant ist eine 626 Meter lange, 175 Meter breite und bis zu 35 Meter hohe Halle für die Hochregale mit Lebensmitteln und Hygiene-Artikel. Inklusive der Zu- und Abfahrt und der Rangierfläche für die Lastwagen braucht die Anlage mindestens 25 Hektar Ackerland. Die Gemeinde hat die Fläche gekauft und damit der Landwirtschaft entzogen.
Dagegen klagt der Umweltverband BUND. Weil die Baugenehmigung deshalb außer Vollzug gesetzt wurde, wachsen nun Gräser und Kräuter auf der großen Fläche. Archäologen untersuchten den Baugrund und fanden im Sommer 2019 die Reste eines 7000 Jahre alten Steinzeitdorfes. Entdeckt wurden Lehmgruben, Gräber und Pfostenlöcher von etwa 15 schiffsförmigen Häusern aus der Rössener Kultur.
Demonstrativ gelassen kommentierte der Gemeindevorstand von Wölfersheim das wenige Stunden zuvor ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Logistikzentrum Wölfersheim. Der Bau des 30 Hektar umfassenden Nachschublagers für Rewe-Lebensmittel wird damit nicht verhindert, heißt es sinngemäß in der Mitteilung des Gemeinde-Sprechers Sebastian Göbel. Angeordnet sei nur eine zusätzliche Prüfung.
Der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig hielt am Donnerstag ein Klagerecht dann für gerechtfertigt, wenn durch eine Zielabweichung „erhebliche Umweltauswirkungen“ nicht ausgeschlossen werden könnten. Der Kasseler Verwaltungsgrichtshof muss das nun prüfen.
Gemeinde: Zielabweichung nicht mehr notwendig
Nur wenn diese Prüfung tatsächlich erhebliche Auswirkungen auf Tiere, Pflanzen, Wasser und Wetter hat, kann der BUND laut Gemeindevorstand gegen die Zielabweichung klagen. Die Wölfersheimer geben sich zuversichtlich, dass die fast neun Hektar große Lagerhalle gebaut werden kann. Denn „zwischenzeitlich wurde der Regionalplan geändert“, so Göbel. „Und die Zielabweichung, die Gegenstand der Klage ist, ist nicht mehr notwendig. Eine finale Entscheidung wurde durch das Bundesverwaltungsgericht nicht getroffen.“
Für die Wölfersheimer Grünen sehen das Urteil als Fortschritt an. Zugleich wundern sie sich über die Kommentierung aus dem Rathaus. Fraktionsvorsitzender Michael Rückl: „Dass die Bedeutung des Urteils heruntergespielt und weiter so getan wird, als sei alles im Plan, das war zu erwarten. Dass aber behauptet wird, zwischenzeitlich sei der Regionalplan geändert worden und die Zielabweichung quasi überholt, das ist eine Fehlinformation. Tatsache ist, dass eine Fortschreibung des Regionalplans ansteht. Der Plan ist im Entwurfsstadium. Die gewählten Gremien kennen ihn bislang nicht. Und beraten und beschlossen ist noch lange nichts.“
Ob Rewe weiter hinter den Bauplänen aus dem Jahr 2017 steht, bleibt offen. Auf Anfrage reagierte das in Rosbach sitzende Unternehmen am Freitag nicht.