Uni Gießen würdigt Holocaust-Chronisten
Die Persönlichkeit und das Lebenswerk des österreichischen Journalisten und Schriftstellers Oskar Singer (1893 – 1944) wurde am Mittwochabend, 26. Oktober 2016 gewürdigt: Im ersten Stock der Gießener Universitätsbibliothek (UB) erfolgte die Einweihung und Vorstellung eines nach dem Autor benannten Raums. Singer hatte das schreckliche Geschehen des Gettos Lodz/Litzmannstadt erlebt und darüber in Chroniken berichtet.
Einzigartige Sammlung an Holocaust-Literatur
Zahlreiche Gäste – darunter die aus London angereiste Enkelin Singers, Eva Bonfield und deren Tochter Camilla – nahmen an der Feier teil und besichtigten anschließend dass Präsentations- und Arbeitszimmer, deren Bedeutung der Leiter der Uni-Bibliothek, Dr. Peter Reuter und der Vizepräsident der Justus-Liebig-Universität, Prof. Dr. Peter Winker, erläuterten: Dort wird beispielsweise die Suche nach NS-Raubgutbeständen in der UB dokumentiert und über die Tätigkeit der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (AHL) informiert, die unter anderem die „Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt“ ediert und 2007 herausgegeben hat. Zudem sind dort Bestände der einzigartigen Sammlung an Holocaust- und Lagerliteratur der AHL sowie eine zum Thema Holocaust entstandene Privatbibliothek, die der UB kürzlich von Heike Duill und Marianne Groß (Frankfurt/Main) übergeben worden ist, aufbewahrt. Der Raum soll für gemeinsame Projekte wie die Digitalisierung und Erschließung seltener Holocaust- und Lagerliteratur genutzt werden, geht aus einer Veröffentlichung der UB-Pressestelle hervor, die man zur Vorbereitung auf die Feier zur Einweihung des Raums bereits einige Tage vorher in den Zeitungen lesen konnte.
Er ließ sich nicht beugen
In dieser Veröffentlichung wird der Lebensweg des Literaten beschrieben, den die Festredner während der Feier näher erläuterten. Er wurde am 24. Februar 1893 in Ustroń (im heutigen Polen) geboren und war Jurist und Schriftsteller, der für Prager Zeitungen schrieb. Zeitlebens ließ er sich nicht beugen ließ und veröffentlichte kritische Beiträge: 1935 prophezeite er in seinem Drama „Herren der Welt“ die vollständige Judenverfolgung und -vernichtung. Er war – wie eingangs erwähnte – einer der wichtigsten Autoren der „Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt“, die innerhalb des Archivs der jüdischen Gettoverwaltung ab Januar 1941 bis Ende Juli 1944 tagesaktuell die wichtigsten Ereignisse für die Nachwelt festhielt. Im August 1944 wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Es gelang ihm, unter Entbehrungen, Qualen und Erniedrigungen das Lager und einen Todesmarsch zu überleben. 1944, vermutlich im Dezember, starb er jedoch im Dachauer Außenlager Kaufering. Seine Frau Margarethe starb im KZ Bergen-Belsen; seine Kinder Ervin und Ilse konnten überleben.
Die Getto-Chronik von Lodz/Lippmannstadt
In dem Arbeitsraum der UB haben auch die Dokumentationen einen Platz gefunden, die die von dem Literaturwissenschaftler Hon.-Prof. Dr. Sascha Feuchert geleitete Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der JLU Gießen erarbeitet hat. Wie Feuchert berichtete, sind die Aufzeichnungen Singers eine besonders wichtige Quelle, damit – zusammen mit polnischen Kollegen – die Getto-Chronik von Lodz/Lippmannstadt überhaupt editiert werden konnte. Feuchert unterstrich: „Uns wurde schnell klar, dass die Chronik unter Singers Leitung immer mehr zu einem Dokument wurde, das bewirken sollte, die Geschichte dieser barbarischen Zeit später einmal beschreiben zu können. Es war Motivation für ihn und seine rund 15 Mitstreiter im Getto, unter diesen katastrophalen Umständen täglich schriftlich das Vermächtnis dieser Zwangsgemeinschaft anzufertigen. Deren Weg – darüber machte sich vor allem Oskar Singer wenig Illusionen – würde wohl in die Vernichtung führen.“ Leider bewahrten sich diese Befürchtungen: Etwa 45 000 Menschen starben in dem Getto aufgrund der unmenschlichen Lebensumstände.
Schwierige Spurensuche
Wie Sascha Feuchert weiter berichtete, war die Spurensuche nach der Biographie der Singer-Familie schwierig, denn nur wenige Lebensdaten waren zunächst zu erfahren. Hilfreich bei der Recherche waren dann unter anderem Lucille Eichengreen, Singers Sekretärin im Getto-Archiv und der Sohn des Schriftstellers, Ervin, der das Team der Arbeitsstelle Holocaustliteratur nach London einlud, um mit ihm über seine Familiengeschichte zu sprechen. Feuchert beendete seine Rede mit Zitaten aus einem Bericht Singers, der schilderte, wie unter schwierigsten Lebensumständen ein Geburtstagsmahl unter der Verwendung unter anderem von Kartoffelschalen entstand. Die Beschreibung dieser für die heutige Wohlstandsgesellschaft nicht mehr nachzuvollziehenden Bedingungen bewegte die Zuhörer, zu denen auch der frühere hessische Finanzminister Karl Starzecher gehörte. Er ist Vorsitzender des Stiftungsbeirats der Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung zu Lich, die die Arbeitsstelle Holocaustliteratur und Uni-Bibliothek ebenso unterstützt wie die Berthold-Leibinger-Stiftung. Feuchert dankte für die Beiträge der Stiftungen und Peter Reuter dafür, dass er die Idee hatte, diesen Raum innerhalb der Bibliothek einzurichten und nach Oskar Singer zu benennen.
Die Feier wurde abgerundet durch eine Rede der Enkelin Singers, Eva Bonfield und der Überreichung eines Geschenkes für die Uni-Bibliothek durch Heike Duill und Marianne Groß: Es handelt sich um ein Gemälde des renommierten israelischen Künstlers Jehuda Bacon, der das Konzentrationslager in Auschwitz überlebt hat. Die Gäste besichtigten nach der Feier den Dokumentationsraum und schauten in die Bände hinein, die über das Leid während der nationalsozialistischen Herrschaft berichten: Diese Schriftstücke sollen und werden dazu beitragen, dass dem Aufflackern solcher Willkürherrschaft vorgebeugt wird.