Das Hirzenhain-Massaker
Von Corinna Willführ
Der Morgen des 26. März 1945. Es ist der Todestag von 87 Menschen, erschossen von einer SS-Einheit am Waldrand von Hirzenhain. Zum 75. Jahrestag sollte mit einem Vortrag des zum Kulturkreis gehörenden Geschichtskreises der Nachbarkommune Gedern an das Massaker erinnert werden. Referent wäre Michael Keller, Herausgeber des Buches „Das mit den Russenweibern ist erledigt“, gewesen. Der Vortrag musste aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden.Zeichen gesetzt
Die Erinnerungen an den 50. Jahrestag des Massakers, der in 1995 mit einer zweitägigen Veranstaltung im Rahmen der „Zweiten Wetterauer Kulturtage“ zum Thema Heimat die Opfer würdigte, ist dem damaligen Hirzenhainer Pfarrer Manfred Patzelt noch immer gegenwärtig. Ebenso wie Elfriede Pfannkuche, 1995 Bürgermeisterin der Wetteraukommune und Stephen Porter. In einem Workshop mit Einheimischen hatte der Künstler unter dem Titel „Zeichensetzungen“ mehrere Stationen längs des Wegs vom Ort bis zur Exekutionsstelle am Waldrand erarbeitet. Viele Menschen – darunter auch die Teilnehmer der Busfahrten, die der DGB zu der Gedenkveranstaltung in Hirzenhain organisiert hatte – gingen damals längs der „Zeichensetzungen“. Ein Weg, der vielen bis heute unvergesslich ist. Unter ihnen war damals auch Karl Starzacher, 1995 Vorsitzender des VDK-Landesverbands, der spätere Hessische Finanzminister und – nicht zuletzt – treibende Kraft für eine würdige bleibende Erinnerung an die Toten vom 26. März 1945 auf der Gedenkstätte des Kloster Arnsburg bei Lich.
Ein Hinweisschild, wie es an vielen Orten in Deutschland zu finden ist: Auf braunem Untergrund mehrere weiße Kreuze, dazu der Schriftzug „Gedenkstätte“. Schilder, die meist auf Friedhöfe hinweisen, auf denen Opfer des Ersten und Zweiten Weltkriegs beigesetzt sind. Das Hinweisschild an der Straße zwischen Hirzenhain und dem Ortsteil Glashütten weist nicht den Weg zu einem Friedhof. Und doch ist es ein Ort, an dem 87 Menschen, 81 Frauen und sechs Männer, gewaltsam starben. Der 26. März 1945, ein Datum, das fest in die Geschichte von Hirzenhain eingeschrieben ist. Die Ereignisse – vor und nach diesem Datum – hat erstmals der Historiker Michael Keller, 1995 Kulturamtsleiter der Stadt Friedberg (später Bürgermeister der Kreisstadt) in der Dokumentation „Das mit den Russenweibern ist erledigt“, vor mehr als zwei Jahrzehnten in Kooperation mit dem damaligen Hirzenhainer Pfarrer Manfred Patzelt und der im vergangenen Jahr verstorbenen Altenstädter Heimatforscherin Elisabeth Johann aufgearbeitet. Der Titel, obgleich eindeutig ein Zitat aus den von dem Experten gesichteten Original-Unterlagen, wurde bei der Erstpublikation von manchen als diskriminierend gegenüber den Opfern empfunden. Und war doch gerade in dieser Formulierung Ausdruck der menschen- wie frauenverachtenden Haltung, die wesentlicher Bestandteil der faschistischen Gesinnung war – und bis heute ist.
Mein Vater wird gesucht
Hirzenhain zählt Ende des Zweiten Weltkriegs rund 650 Einwohner. In seinem Buch nennt Keller den Ort eine „industrielle Insel in einer kleinbäuerlichen Welt, auf Gedeih und Verderb mit Buderus verbunden.“ Noch heute gibt es in dem Ort eine Hugo-Buderus-Straße. Das Kunstguss-Museum mit vielen sehenswerten Artefakten aus der jahrhundertelangen Geschichte der Eisenverarbeitung kämpft um sein „Überleben“. Bis 1943 wurden in dem Dorf am östlichen Rande der Wetterau etwa Motoren für Lokomotiven hergestellt. Zuvor schon Ofenplatten, Büsten für die Herrschenden, Glocken für Kirchen. Noch im selben Jahr beginnen die Breuer-Werke, an denen Buderus mehrheitlich beteiligt war, Teile für Panzer zu bauen – und werden damit zu einem wichtigen Betrieb Männer aus Polen, Frankreich, Russland und Deutschland, alle zur Zwangsarbeit gedungen, wird der kleine Ort zur letzten Station ihres Lebens.
Die Nacht zum 23. März 1945. Bei Oppenheim überqueren amerikanische Infanterieeinheiten den Rhein. Einen Tag später erreichen sie Darmstadt, am 25. März schließlich Frankfurt. Es ist ein Sonntag. 44 der Frauen, Gestapo-Häftlinge aus dem Frankfurter Polizeigefängnis, sind erst zwei Tage zuvor aus dem Frankfurter Polizeigefängnis in dem Rüstungsbetrieb Breuer eingetroffen. In den frühen Morgenstunden des 26. März werden sie in den Wald am Rand der Straße nach Glashütten geführt. Zur gleichen Stelle waren bereits tags zuvor sechs männliche Häftlinge abkommandiert worden. Ihr Auftrag: Dort eine Grube für ein Benzinlager auszuheben. Für sie alle wurde das ihr eigenes Grab.
„Eine Gruppe von 40 bis 60 weiblichen Häftlingen stand im Wald. Auf dem Erdwall vor der Gruppe standen Fritsch und drei bis vier Männer, ebenfalls mit Maschinenpistolen. Die Häftlinge wurden in Gruppen zu zweien aus dem Wald zur Grube gezerrt und in die Grube hineingestoßen. Dann schossen Fritsch und die SS-Männer mit gezielten Hüftschüssen auf die in die Grube gestoßenen Häftlinge“, gibt sechs Jahre später der Zeuge Heinz Hans Koenen im Prozess gegen den SS-Hauptscharführer Emil Fritsch, zu Protokoll. Unter dessen Kommando wurde die Hinrichtung vollzogen. Fritsch wird zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.
Für Stephen Porter, heute im Vorstand der Evangelischen Kirchengemeinde Ortenberg, ist insbesondere „der intensive Dialog, der sich durch das Kunstprojekt mit der Bevölkerung ergab“, in Erinnerung. Ein Dialog, der für Pfarrer Manfred Patzelt bereits Mitte der 1980er Jahre, beeinflusst durch die Friedensbewegung, einsetzte. „Die Menschen wollten über die Ereignisse in ihrem Heimatort sprechen.“ Mit dem Seelsorger. Möglichst aber unter vier Augen. Für den 73jährigen Pastor im Ruhestand, der heute in Bad Soden lebt, haben das Buch und die Veranstaltung dazu beigetragen, einen Bann des Schweigens aufzubrechen. Bis heute erinnert die Gemeinde zum Volkstrauertag im November an die Getöteten, legen Kommunalvertreter und Privatpersonen dort Blumen und Kränze ab. Und da ist noch die Sammlung von Steinen am Kreuz, die darauf hindeutet, dass hier Menschen jüdischen Glaubens an ihre Toten erinnern. Auskunft darüber, wer sie sind, gibt es nicht.
„Mein Vater wird gesucht“, das Lied, das zu der Gedenkveranstaltung 1995 erklang, ist Elfriede Pfannkuche besonders in Erinnerung geblieben. Der Text zur Melodie von Gerda Kolmey: „Mein Vater wird gesucht. Er kommt nicht mehr nach Haus. Sie hetzten ihn mit Hunden. Vielleicht ist er gefunden.“ Auch mir als Autorin dieses Textes ist eine der „Zeichensetzungen“ bis heute gegenwärtig. Die 87 einfachen Holzstäbe, die den Weg vom Dorf zum Waldrand markierten. Ein jeder für ein Menschenleben. Bei Millionen Toten, die der Zweite Weltkrieg forderte, doch nur eine „Randnotiz“. Mitnichten. Wann immer ich an dem Hinweisschild „Gedenkstätte“ auf der Strecke von Hirzenhain nach Glashütten vorbei komme, ist mir das sinnlose Morden des nationalsozialistischen Systems gegenwärtig. Ich fahre die Srecke regelmäßig. Zum Einkaufen nach Hirzenhain, einem Dorf, von dem Stephen Porter 1995 sagte: „Es gibt keinen schuldfreien Ort, aber auch keinen, der nicht wieder leben könnte.“
PS: Von den Toten in Hirzenhain konnten über viele Jahre nur zwei Frauen identifiziert werden: Emilie Schmitz aus Luxemburg Ihre letzte Ruhestätte fanden alle Ermordeten des Massakers auf der Gedenkstätte des Klosters Arnsburg bei Lich. Für viele Menschen unverständlich: Neben den Gräbern von Wehrmachtsangehörigen, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben ließen. Auf dem Gräberfeld am Kloster Arnsburg sind mehr als 450 Menschen beigesetzt. Das falsche Datum, das viele Jahre lang auf den Gedenksteinen der Opfer aus Hirzenhain zu lesen war, ist korrigiert.
Im vergangenen Jahr konnten namentliche Stelen für weitere Opfer des Massakers von Hirzenhain am Kloster Arnsburg errichtet werden.
Dank an Corinna Willführ für die Erinnerung an diesen Massenmord von Hirzenhain. Die Erinnerung an dieses Verbrechen in den letzten Tagen des Vernichtungskrieges muss immer wieder, Jahr für Jahr, in die Köpfe der Menschen transportiert werden; von Generation zu Generation bis ans Ende der Welt.
Peter Gwiasda