Nie wieder Krieg!

80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion

Von Ursula Wöll

Am 22. Juni 1941 überfielen Hitlers Soldaten die Sowjetunion. Mit 27 Millionen Toten beklagt das Land die meisten Opfer des Zweiten Weltkriegs. Unter ihnen sind über 3 Millionen sowjetische Soldaten, die in deutscher Gefangenschaft verhungerten, etwa im niedersächsischen Lager Sandbostel oder im hessischen Lager Ziegenhain/Trutzhain. Über das millionenfache Leiden und Sterben der sowjetischen Zivilbevölkerung zuhause informiert das Tagebuch der jungen Lena Muchina aus Leningrad.

Unser Bundespräsident legte bereits am 14. Juni einen Kranz in Sandbostel ab, in Trutzheim sind wir alle am 22. Juni aufgerufen, Blumen an den Gräbern niederzulegen. Die Stadt wurde fast 900 Tage lang von deutschen Soldaten eingekesselt, so dass allein hier 1 Million BewohnerInnen verhungerten und erfroren.

Unternehmen Barbarossa

Der Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war lange geplant, und zwar als Vernichtungskrieg unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“. Die Nazis betrachteten die EinwohnerInnen als „Untermenschen“. Möglichst viele sollten sterben, um ‚Lebensraum‘ im Osten für die ‚höherwertigen‘ Deutschen zu schaffen. Die rassistische Abqualifizierung der anderen tötet unser Mitgefühl und ist eine Voraussetzung, um ihnen zu schaden. So hat etwa meine Mama, eine herzensgute Frau, damals in dem Glauben ihr Leben gelebt, dass die anderen am Krieg schuld seien. Die Hitler-Propaganda gab ihr wohl das Gefühl, dass nichts Schlimmes passiert, so dass sich ihre Sorge auf Verwandte beschränkte, die im Osten kämpften.

Frank-Walter Steinmeier in Sandbostel

In 150 Baracken hatten die Nazis über 300000 Kriegsgefangene gesteckt, unter ihnen 70000 sowjetische Soldaten. Als „russische Untermenschen“ wurden sie noch übler behandelt als die anderen Gefangenen. Tausende starben durch Zwangsarbeit, Hunger, Seuchen und Misshandlungen. Erst im April 1945 wurde das Lager von britischen Soldaten befreit. Seit 2007 ist es Gedenkstätte.Der Bundespräsident wollte mit seinem Besuch an eine fast vergessene Opfergruppe, nämlich die in Lager gesperrten Kriegsgefangenen erinnern. Es war sicher ein Zufall, dass sein Gedenken am 14. Juni in Sandbostel auf den gleichen Tag fiel, an dem die NATO in Brüssel tagte. Dort wurden offenbar die zu Russland bereits bestehenden Gräben verbal vertieft und neue zu China gegraben, was mich einen neuen Kalten Krieg fürchten lässt. Als Folge wird sich das Wettrüsten verstärken, die ‚Verteidigungsausgaben‘ auf beiden Seiten der Gräben wachsen bereits kräftig, trotz Pandemie. Ich habe  Angst, dass eines Tages aus einem kalten Krieg ein heißer wird, auch wenn das Gipfeltreffen in Genf zwischen Biden und Putin am 16. Juni diesen Eindruck abschwächen sollte. Am 14. Juni warnte der Bundespräsident auf dem Lagerfriedhof in Sandbostel: „Was passiert ist, darf nie wieder passieren.“

Gedenkstätten in Ziegenhain/Trutzhain

Bis heute sind die Namen von 692 sowjetischen Kriegsgefangenen bekannt, die auf dem Waldfriedhof Trutzhain bestattet sind. Die Gedenkstätte Trutzhain regt an, ihre Gräber am 22. Juni mit selbstgepflückten Blumen zu schmücken. Als Uhrzeit schlägt sie die Zeit zwischen 16 und 19 Uhr vor. Bei etlichen Gräbern werden dann Kurzbiografien der Verstorbenen zu lesen sein. Das Lager Ziegenhain wurde am 25. März 1945 von amerikanischen Soldaten befreit. In der Folge diente es noch mehrmals als Unterkunft für Flüchtlinge, zuletzt für Heimatvertriebene. Diese gründeten 1951 hier die Gemeinde Trutzhain als Ortsteil von Ziegenhain, beide  heute eingemeindet ins nordhessische Schwalmstadt. So erklärt sich der Namenswechsel. Mehr erfährt man unter www.unrecht-erinnern.info, einer gemeinsam von deutschen und russischen Stellen entstandenen Online-Ausstellung.

Lenas Tagebuch
Lena Muchina

„Wie kleinlich ich geworden bin. Ich denke und schreibe nur noch über Essen“, notiert die 16jährige Schülerin Lena Muchina am 22. November 1941 in ihr Tagebuch. Die Hitler-Wehrmacht hatte die Millionenstadt Leningrad eingekesselt, um die Bevölkerung munitionssparend zu vernichten. Die Blockade dauerte fast 900 Tage, eine Million Leningrader starben an Hunger oder erfroren in den harten Wintern. Oft erhielten EinwohnerInnen, die nicht hart arbeiten mussten, nur 125 Gramm Brot täglich auf ihre Lebensmittelkarten. Und das erst nach stundenlangem Anstehen. Auch Lenas Ziehmutter und die alte Aka, mit denen sie zusammenlebte, starben an Entkräftung. Ihre Leichen, notdürftig eingewickelt, zog die Schülerin auf einem Schlitten zu dem Sammelplatz der Toten. Lena selbst überlebte, weil sie das Glück hatte zu den wenigen zu gehören, die über den Ladogasee evakuiert wurden. Sie hatte Verwandte in Gorki und beendete ihr Tagebuch im Mai 1942.

Dieses Dokument eines furchtbaren Jahres beginnt mit der Mädchen- Schwärmerei für Wowa, bis bald nach dem 22. Juni 1941 Lenas Welt durch Hitler zur Hölle wird. Es blieb lange verschollen. Erst nach Lenas Tod erschien es 2011 im Druck und wurde bald auch ins Deutsche übersetzt. Beim Lesen erinnerte ich mich an das Tagebuch der Anne Frank, beide sind von Mädchen geschrieben, die um ihre Jugend betrogen wurden. Ihre fast täglichen Eintragungen schildern anschaulich, was der Krieg Menschen zufügt.

Das Buch „Lenas Tagebuch“ aus dem List-Verlag (Band 61217) kostet 9,99 Euro und eignet sich auch als Geschenk für Jugendliche.

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