Neil MacGregor

Erinnerungen an Deutschland

Von Michael Schlag

In seinem Buch „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ erzählt Neil MacGregor die Geschichte des Landes anhand von Objekten, die die Menschen dahinter hervortreten lassen. Es liest sich wie ein Trost: Es gab immer das bessere Deutschland, das sich am Ende auch durchgesetzt hat.

Unverdrossen Deutschland zugewandt

Ist Deutschlands Geschichte wirklich so besonders und hebt sie sich in Vielem von anderen Ländern ab, gerade im Vergleich mit seinen europäischen Nachbarn? Und zwar im positiven Sinn? Angesichts der fürchterlichen Geschichte des Landes im vergangenen Jahrhundert will man das als Deutscher bestimmt nicht so herausstellen. Aber wenn uns ein Brite so beschreibt, unverdrossen Deutschland zugewandt? 600 Seiten sagt uns Neil MacGregor: Schaut doch einmal, wie Ihr wurdet, was Ihr heute seid, und was Ihr in den vergangenen Jahrhunderten Gutes zum Weltgeschehen beigetragen habt. Und wie schon in dem Buch „Die Geschichte der Welt in 100 Objekten“ erzählt MacGregor seine Geschichte anhand von Objekten, die die Menschen dahinter hervortreten lassen. Wiederum sehr detailreich mit neuen Interpretationen.

Er beginnt im Zentrum von Berlin: Welches andere europäische Land hat denn mitten in seinem Regierungsviertel ein großes Denkmal, dass eben nicht an gewonnene Schlachten, sondern an das größte Verbrechen dieses Landes erinnert? Das Holocaust-Denkmal erinnere die Abgeordneten auf ihrem Weg zum Reichstagsgebäude täglich an dieses schreckliche Kapitel der deutschen Geschichte und MacGregor findet: „Man kann sich nur schwer eine internationale Parallele zu dieser Übung in schmerzlicher Selbstvergewisserung vorstellen.“

Die Lutherbibel

Aber was eint uns überhaupt als Nation? Für einen Briten ist der Umfang seiner Nation immer ein klarer Fall: Eine Insel hat nun einmal feste Grenzen. Ganz anders Deutschland: Seine längste Zeit war Deutschland ein buntes politisches Mosaik mit einigen hundert Kleinstaaten plus weit verstreuten Siedlungsgebieten, die gleichzeitig literarische Ursprünge sind: Goethe in Straßburg, Kafka in Prag, Kant in Königsberg. Aber zunächst weiter zurück: Politisch war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation über Jahrhunderte eine fragmentierte Macht, wirtschaftlich bremsten Zölle Handel und Entwicklung und es gab die unterschiedlichsten Währungen, wenngleich Gulden, Taler und Dukaten immerhin konvertierbar waren. Aber ansonsten gab es nichts, woran man Deutschland festmachen konnte, Deutschland war eine Imagination, so sieht es MacGregor, geeint alleine durch die gemeinsame Sprache.

Allerdings waren frühere Dialekte so unterschiedlich, dass man sich zwischen Nord und Süd schwerlich verständigen konnte. Die Einheit der Sprache erreichte man allein durch das geschriebene Wort, und „dahinter steht die Leistung eines Mannes: Martin Luther.“ Obwohl als Druckwerk absurd teuer, wurde die Lutherbibel ein Bestseller in ganz Deutschland und so habe Luther „mit seiner Bibelübersetzung mehr als irgendeine andere einzelne Person die moderne deutsche Sprache geschaffen.“ Ein Buch für Leser zwischen Berlin und Basel, Straßburg und Prag schaffte eine neue Basis für die Verständigung. Ich muss zugeben: Diese Interpretation der Lutherbibel war mir neu. Und auch dies hier: Wahrscheinlich verdankt Luther der politischen Zersplitterung Deutschlands sein Leben. In einem Zentralstaat wie England oder Frankreich hätte Luther einen Kirchenbann und die Reichsacht des Kaisers wohl schwerlich überlebt. In Deutschland aber konnte ihn ein regionaler Herrscher (der Kurfürst von Sachsen) Luther vor den viel höheren Instanzen in Sicherheit bringen, auf der Wartburg.

Die Lutherbibel (Foto: Torsten Schleese/ Wikimedia Commons
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lutherbibel.jpg)

Damit ist die Reformation eine ganz spezifisch deutsche Geschichte. Und die Verbreitung dank der Druckkunst von Gutenberg das ist nicht zufällig in Mainz, in einer Weingegend entstanden: Die Funktion der Druckerpresse ist in wesentlichen Funktionen baugleich mit einer Weinkelter. Auch Grimms Märchen haben für die Nation Deutschland große Bedeutung, sind sie doch „ein Beleg dafür, dass die Deutschen in ihrer Sprache und in ihren Volksmärchen eine Identität besitzen, die kein fremder Eroberer auslöschen kann.“ Gemeint ist die Besetzung Deutschlands durch Napoleon mit Annektierung großer Gebiete im Westen.

Vom Irrweg der Reichkrone bis zum Bauhaus

Und schließlich der dritte große Einiger der deutschen Sprache: Goethe. Er habe mit den Leiden des jungen Werther „Deutschsein in einer Weise ausgedrückt, die von anderen jungen Deutschen verstanden wurde“. Und schließlich die Walhalla bei Regensburg, die ausschließlich Büsten von Persönlichkeiten zeigt, deren Gemeinsamkeit die deutsche Sprache war. Neben zahlreichen Herrschern sind das auch Goethe, Schiller, Gutenberg und Luther, der allerdings erst 1848 einen Platz bekam. Und die Geschichte wird weitergeschrieben: Erst 1990 kam mit Albert Einstein der erste Deutsche jüdischen Glaubens nach Walhalla, Sophie Scholl bekam erst 2003 einen Platz, Heinrich Heine gar erst 2010. Nicht so ernst zu nehmen ist indes das Kapitel über die kulturelle und nationale Bedeutung von Bier und Würsten für uns Deutsche, dem Briten sei es gegönnt.

Immer weiter geht es durch die deutsche Geschichte anhand von Objekten, die MacGregor mit enormer Akribie verfolgt und dabei die politischen Absichten der jeweiligen Zeit aufschlüsselt. Der irre Weg der Reichskrone von Kaiser Karl zwischen Wien, Nürnberg und Aachen mit Entführungen und Kopien und schließlich der Nachbildung der Karlskrone, die Napoleon sich als Kaiserkrone aufsetzt.

Und dann: Der kosmopolitische Humanismus der Weimarer Klassik, „womöglich Deutschlands höchste kulturelle Leistung“, findet MacGregor. Die 1919 gegründete Schule für Architektur, Kunst und Design – das Bauhaus. Gemeinschaftliche Arbeit, modernes Design und erschwingliche Massenware dank industrieller Produktion. Bauhaus entwarf auch neue Schrifttypen, eine „neue europäische Grafik“ und auch hier zieht MacGregor Verbindungen über Zeiten und Räume und bringt die Objekte zum Sprechen. Bereits 1933 wurde das Bauhaus als Zentrum des Kulturbolschewismus geschlossen.

Das bessere Deutschland ging nie ganz unter

Doch selbst in der grauenhaftesten Zeit der deutschen Geschichte findet MacGregor Belege, dass es immer auch ein anderes, besseres Deutschland gab, das nie ganz unterging. Die Inschrift „Jedem das Seine“ im Eingangstor zum Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar „erzählt von einer besonderen Art der Perversion und Brutalität, von geistigem Sadismus, ist zugleich aber auch eine stille Behauptung der Würde“, schreibt MacGregor. Jedem das Seine steht für die römische Rechtsmaxime „Suum Cuique“ als Ideal der Gerechtigkeit. Die Worte wurden in preußische Münzen geprägt, eine Kantate von Johann Sebastian Bach trägt diesen Titel, zuerst aufgeführt eben hier in Weimar. Und jetzt dieser Spruch auf der Innenseite eines KZ-Tores, sodass die Gefangenen ihn jeden Morgen lesen mussten, wenn sie zur Arbeit aus dem Lager gingen. Die Schrift wurde in jedem Jahr neu in Rot gestrichen, insgesamt acht Mal. „Wie konnten alle humanen Traditionen derart zusammenbrechen?“ fragt MacGregor.

Die Inschrift „Jedem das Seine“ am Eingangstor zum KZ Buchenwald. (Foto: Torsten Schleese / Wikimedia Commons https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0d/Gate_KZ_Buchenwald_01.JPG)

Aber wer hat die Typografie der Buchstaben entworfen? Sie stammt von Franz Ehrlich, Bauhaus-Schüler bei Klee, Kandinsky und Gropius. 1934 als Kommunist verhaftet bekam er von der SS den Befehl, die Inschrift zu entwerfen. „Jedem das Seine“ im Tor von Buchenwald ist reines Bauhaus, für die Nazis entartete Kunst, aber an diesem Ort „ein kodierter Protest“ und für MacGregor ein Beleg: „Es gibt ein anderes Deutschland, eine andere Tradition.“

Der schwebende Engel. (Foto: Dguendel / Wikimedia Commons
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:G%C3%BCstrow,_Dom,_der_schwebende_Engel_von_Ernst_Barlach,_Bild_1.jpg)

Und noch ein Objekt, das MacGregor zum Sprechen bringt, und mit dem das Buch endet: Der schwebende Engel im Dom von Güstrow, ein Mahnmal gegen den Krieg von dem Bildhauer Ernst Barlach. Ein Engel mit stummen Lippen, die Augen geschlossen – Sinnbild für das ganze 20. Jahrhundert Deutschlands. MacGregor verfolgt auch hier alle Spuren: Barlach hatte sich 1915 als Freiwilliger zu den Waffen gemeldet, ein Jahr später wurde er als Invalide aus dem Kriegsdienst entlassen und fortan war Pazifismus die treibende Kraft des Bildhauers. 1926 entstand der bronzene Engel als Auftrag der Kirchengemeinde in Barlachs Heimatstadt Güstrow für ein Kriegerdenkmal, das Gesicht geformt nach dem Selbstbildnis von Käthe Kollwitz (der ein eigenes Kapitel gewidmet ist). Der Engel zeigt nur Trauer, nichts davon, dass für eine gerechte Sache gestorben wurde. 1937 wurde der Engel aus dem Güstrower Dom entfernt und 1940 für die Kriegsproduktion eingeschmolzen. Freunde Barlachs spürten aber in einer Berliner Gießerei die Gipsform des ersten Abgusses auf und ließen damit zweiten Engel fertigen. Die Gipsform wurde bei einem Bombenangriff zerstört, der zweite Guss überlebte aber versteckt in Lüneburg. Deutschland aber war geteilt und 1951 bekam der (zweite) Engel einen Platz in der Antoniterkirche in Köln. 1953 schließlich wurde davon eine weitere. dritte Kopie des Engels gefertigt für den Dom in Güstrow und bekam hier eine völlig neue Bestimmung als Symbol der Verständigung von Ost und West. 1981 trafen sich Helmut Schmidt und Erich Honecker im Dom von Güstrow vor dem schwebenden Engel.

Für jemanden, der sich der Nachkriegsgeneration zurechnet, liest sich das ganze Buch „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ wie ein einziger Trost: Es gab also immer auch dieses bessere Deutschland und am Ende hat es sich auch durchgesetzt. Und das aufgeschrieben von einem Briten, der historisch gesehen nicht viel Grund hat, uns so wohlgesonnen zu sein.

„Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ von Neil MacGregor, Verlag C.H. Beck, 640 Seiten, ISBN: ‎ 978-3406679209, 19,95 Euro

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