Tauziehen um Feuchtwiesen
Von Klaus Nissen
Für das größte Wetterauer Naturschutzgebiet in der Nidder-Aue bei Lindheim, werden gerade neue „Benutzungsregeln“ ausgehandelt. Dabei prallen unterschiedliche Interessen aufeinander. Naturschützer sind sauer, dass am Rande des Ballungsraumes Frankfurt Rhein-Main viele Spaziergänger und Sportler im Brutgebiet seltener Vögel geduldet werden.
Radler, Reiter und Gassi-Gänger unerwünscht
Vor wenigen Tagen trabte eine Reiterin auf ihrem Pferd mitten durchs Naturschutzgebiet von Lindheim. Sie hatte einen Hund dabei, der ohne Leine durchs Grasland lief. So etwas geht gar nicht, schimpft Wilhelm Fritzges und deutet auf ein Verbotsschild am Rande des größten Wetterauer Schutzraums für bedrohte Vögel. Er habe die Reiterin nicht mehr erreichen können, bedauert der höchst lebendig wirkende 79-Jährige. Bestimmt viermal am Tag schaut der Gründungsvorsitzende der Natur- und Vogelschutzgruppe 1973 Lindheim nach dem Rechten. „Wir holen ja öfter Hundehalter aus den Wiesen raus“ – doch das sei eine Sisyphus-Arbeit. Gerade im Sommer wimmle es hier nicht nur von Spaziergängern, sondern auch von „Radfahrern, die sich austoben und Motorradfahrern, die ihre geländegängigen Wilhelm Fritzges zeigt auf das Schild, das die Wege und Wiesen im Naturschutzgebiet bei Lindheim für Spaziergänger und Sportler sperrt. Trotzdem laufe und fahre mancher gedankenlos quer über das Gras schimpft der Vogelschützer. Foto: Nissen Maschinen testen wollen.“ All das störe die selten gewordenen Vögel bei der Nahrungsaufnahme und beim Brüten. Einer der letzten hessischen Brutplätze des Großen Brachvogels ist damit in Gefahr, sagt Fritzges beim Ortstermin mit dem Kreis-Anzeiger am Aussichtsturm neben der Nidder, am Ende der Lindheimer Heugasse. Die früher hier brütenden Wiesenpieper seien schon länger nicht mehr gesichtet worden. „Wir wollen eine ganzjährige Wegesperrung!“ fordert Fritzges. Dass es dazu kommt, hält er für nicht sehr wahrscheinlich. Die obere Naturschutzbehörde wolle das Areal leider für zu viele Besucher offen halten.
Die Sperrzeit wird um sechs Wochen vorverlegt
Dabei werden die Regeln zur „Benutzung“ des größten Wetterauer Naturschutzgebiet gerade neu festgelegt. Die Obere Naturschutzbehörde beim Regierungspräsidium Darmstadt wird sie im Laufe des Jahres per Amtsblatt verkünden. Wilhelm Fritzges wurmt es, dass die amtlichen Natur-Wächter ihn im Zuge des Anhörungsverfahrens nicht vorher konsultiert haben. Schließlich habe er den Schutz der Feuchtwiesen an der Mündung des Seemenbachs in die Nidder einst angestoßen. Und nun wolle man vom Schreibtisch aus Regeln in der Satzung verankern, die Probleme machen. Beispielsweise ein zu kurzes Betretungsverbot. Momentan sind die 220 Hektar „Im Russland und in der Kuhweide von Lindheim“ zwischen dem 16. März und dem 15. Juli auch auf den Wegen für alle tabu. Diese Sperrzeit soll um sechs Wochen verlängert werden und künftig stets ab dem 1. Februar gelten. Das reicht Fritzges und der seit Januar von Stefan Weitzel geführten Vogel- und Naturschutzgruppe aber nicht aus. Sie sind den Gemeinden Altenstadt und Limeshain dankbar, dass sie die Wege im Naturschutzgebiet bislang freiwillig ganzjährig gesperrt halten. Doch besser sei es, wenn das ganzjährige Betretungsverbot von der Oberen Naturschutzbehörde angeordnet würde.
Nach Angaben der Gemeinde Altenstadt verpflichtet der Entwurf für das neue Regelwerk Hundehalter, ihre stark an Vogelnestern interessierten Vierbeiner auf den Wegen zu halten. Sie dürften nicht mehr an langen Schleppleinen auf das Gras laufen. Allerdings sieht die Gemeinde keine Möglichkeit, das Betretungsverbot im Naturschutzgebiet zu kontrollieren. Die Ordnungspolizei ist auf den Feuchtwiesen nicht im Einsatz.
Neu ist auch das Verbot, Fluggeräte aller Art über dem Naturschutzgebiet fliegen zu lassen. Allerdings wäre ein Drohnen-Einsatz in der Brutzeit sinnvoll, findet Wilhelm Fritzges. So könne man kurz vor der Mahd Nester im hohen Gras oder versteckte Rehkitze aufspüren und ihr Leben retten.
Die Lindheimer Vogelschützer besitzen nach eigenen Angaben etwa 30 Hektar im Naturschutzgebiet und haben ein Mehrfaches davon zur Pflege gepachtet. Sie hätten gern den direkten Zugriff auf das Wehr, mit dem sie die Wiesen länger als bisher fluten können. Das sei notwendig, sagt der Vereinsvorsitzende Stefan Weitzel. Denn die trockenen Sommer setzten dem Ökosystem zu. Gegen Ende des Sommers gebe es richtige Staubwolken, wenn die Landwirte das Gras abmähen. Allerdings hat in der Wetterau nur das Forstamt Nidda die Hoheit über die Zugänge der 40 Naturschutzgebiete zum Wasser.
Im Laufe dieses Jahres soll das Naturschutzgebiet um 29 auf dann fast 250 Hektar wachsen. Allerdings sind die Details noch nicht völlig geklärt. Der Altenstädter Gemeindevorstand hat noch nicht entschieden, ob er den Auenwald an der Galgenweide und das renaturierte Nidder-Ufer der „Wasserstube“ ins Naturschutzgebiet einbringt. Ganz im Osten soll ein Zipfel Grünland entlang des Seemenbachs unter Naturschutz kommen. Dagegen wandte sich der Vertreter des Landesjagdverbands im Anhörungsverfahren. Denn diese Fläche werde von Düdelsheimer Landwirten als „Futter- und Weidereserve“ gebraucht. Es sei „kontraproduktiv“, wenn dort Weidezäune verboten würden. Wilhelm Fritzges von den Lindheimer Vogelschützern widerspricht: Auch mit dem Naturschutz-Status wäre eine Beweidung der Wiesen und der Weidezaun möglich. Beides müsste nur vorab beantragt werden.
Die Vogelschützer fordern außerdem die Erlaubnis, eine Brutzone für Kiebitze mit einem relativ festen Elektro-Maschenzaun vor Eierdieben wie dem Fuchs und dem Waschbär schützen zu dürfen. In einem Modellversuch nahe dem Reichelsheimer Flugplatz hat sich das 2019 bewährt, berichtet Stefan Stübing von der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz (HGON). Da wurden etwa fünf Hektar eingezäunt, um die am Boden brütenden Kiebitze zu schützen. „In Hessen gibt es nur noch 250 Brutpaare. Sie haben im vorigen Jahr 200 junge Kiebitze aufgezogen. Die Hälfte davon wuchs innerhalb des Zauns auf.“
Naturschutzgebiete in der Wetterau
Nur etwa 1,5 Prozent des 1100 Quadratkilometer großen Wetteraukreises stehen unter Naturschutz. Es sind genau 1672 Hektar, verteilt über 41 Flächen. Am größten sind die Flächen in der Talaue von Nidder und Hillersbach zwischen Gedern und Burkhards und die Nidder- und Seemenbachaue bei Lindheim mit jeweils mehr als 220 Hektar. Sie wurden Anfang der Achtzigerjahre geschützt. Die meisten anderen Schutzgebiete datieren aus den Neunzigern. Etliche sind kleiner als 30 Hektar – das kleinste ist der Wingertsberg bei Oppershofen mit gerade mal 25 000 Quadratmetern oder 2,54 Hektar. Ein Flächenwachstum und neue Naturschutzgebiete gibt es kaum noch – trotz der Klimakrise und der Notwendigkeit, der Natur mehr Raum und Ruhe zu geben. Zuletzt kamen kleine Flächen unter Naturschutz, die der Mensch bis zur Neige ausgebeutet hat: 2005 die ehemalige Kaolingrube am Rand von Ortenberg, 2010 der ehemalige Quarzit-Steinbruch westlich von Rosbach und jüngst eine stillgelegte Kiesgrube an der B3 nordöstlich von Nieder-Mörlen.