Nordfriesisches Landleben
Von Jörg-Peter Schmidt
In ihrem neuen Roman „Mittagsstunde“ beschreibt Dörte Hansen das nordfriesische Landleben ab den 1950er Jahren. Landbote-Autor Jörg-Peter Schmidt, der selbst oft mit seiner Familie in der Gegend um Husum weilt, ist begeistert. „Selten hat mich ein Buch so beeindruckt“, sagt er. Hier ist seine Rezension.„Mittagsstunde“ zweimal gelesen
Schon in der Ausbildung zum Journalisten lernt man, dass man in seinen Artikeln möglichst vermeiden sollte, in der Ich-Form zu schreiben – bis auf wenige Ausnahmen. Die „Ausnahmeregel“ werde ich bei meiner folgenden Besprechung des Romans „Mittagsstunde“ von Dörte Hansen anwenden. In dieser seit Wochen in den Bestsellerlisten weit vorn liegenden Erzählung wird das nordfriesische Dorfleben in der Zeit etwa der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bis heute beschrieben. Nordfriesland ist mir nicht fremd, weil ich mit meiner Familie oft in der Gegend Husums zu Besuch bin. Nachdem ich Dörte Hansens zweites Buch (das erste viel gelesene heißt „Altes Land“) zu Ende gelesen hatte, klickte ich im Internet die Kritiken aus den verschiedenen Medien runter. Sie sind durchweg positiv. Der Rezensent der „taz“ (Helmut Höge) hat mit großem Interesse „Mittagsstunde“ gleich zwei Mal gelesen, zumal er in einem norddeutschen Moordorf selbst erlebt hat, „wie es immer weniger Bauern gab, aber die Traktorreifen immer größer wurden …, als die Jugend ihren Führerschein machte und im Suff mit dem Wagen des Vaters „aus der Kurve getragen wurde“, als aus dem Tanzsaal der Kneipe freitags eine Diskothek wurde und als die zugezogenen Städter und sonstige Pendler die Mehrheit im Dorf bildeten. Diese Entwicklung, als durch die Flurbereinigung Bäche begradigt wurden, beschreibt Dörte Hansen (1964 in Husum geboren und jetzt in diese Region zurückgekehrt) in „Mittagsstunde“. Der Titel spielt darauf an, dass es bei ihren Landsleuten (und sicherlich anderswo auch) heilig ist, sich zwischen 12 und 14 Uhr auszuruhen. Dies galt vor allem in der Zeit, als so viele Menschen früh auf den Beinen waren, um die Arbeit in der Landwirtschaft zu beginnen. Aber wenn es auch heute nicht mehr so viele Bauernhöfe wir vor fünfzig Jahren gibt, ist die Mittagsruhe für zahlreiche Nordfriesen weiterhin unverzichtbar.
Als der Lehrer noch mit Prügel strafte
In dem 2018 erschienenen Roman spielt sich das Leben in einem fiktiven Dorf namens Brinkebüll ab. Der Name des Dorfes und die handelnden Personen sind erfunden. Die Autorin beschreibt allerdings real eine Szenerie, die sich in der Nachkriegsjahren auch in Mittelhessen oder im Wetteraukreis abgespielt hat. Damals wurde von Erzieherinnen und Erziehern nicht selten Gewalt angewendet. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ein älterer Lehrer an einem oberhessischen Gymnasium, das ich besuchte, einen Bund mit schweren Schlüsseln nach einem Schüler warf. Das ging meistens ungestraft für den Pädagogen aus. Nie werde ich vergessen, dass der Schüler (ein Freund von mir) tatsächlich den Schlüssel zurückwarf: exakt in Richtung des Lehrers, der so verblüfft war, dass er sein Wurfziel lange Zeit erst mal in Ruhe ließ. In „Mittagsstunde“ wird Gewalt gleich mehrmals beschrieben: Lehrer Steensen peitscht den Kindern, wenn sie noch kein Hochdeutsch sprechen, „das Heft im Rhythmus der Beschimpfung um die Ohren oder auf den Hinterkopf“. Auf Seite 70 erfährt man dann, dass Steensen den Buben seinen Zeigestock über die ausgestreckten Hände zieht. Aber es gibt noch in dieser Hinsicht noch eine Steigerung in Brinkebüll: Folkert Ketelsen prügelt seine Frau und die Söhne wie Vieh. Und wie reagieren die Mitbürger? Wütend und fassungslos liest man: „Kein Mensch im Dorf war je auf die Idee gekommen, dass man hätte helfen sollen gegen diesen Vater … Man mischte sich nicht ein, weil Folkert Ketelsen ein Brinkebüller war.“ Ein Gebürtiger also. Das zählt.
Ein Sonderling im Dorf
Aber man lernt die Nordfriesen auch von ihrer guten, spontanen Seite kennen, die sich hinter der harten Schale verbirgt. Das gilt auch für die Hauptpersonen Ella und Sönke Feddersen, die den Dorfkrug betreiben, und für ihren Enkel Ingwer (Archäologe und Hochschullehrer), der erst mal von Kiel nach Brinkebüll zurückkehrt, um seinen mittlerweile pflegebedürftigen Großeltern im Haushalt und in der Gaststätte zu helfen. Das gilt auch für Ingwers Mutter Marret, die als ein Sonderling im Dorf gilt. Denn sie bricht immer wieder aus dem seit Jahrhunderten unverändert geregelten Arbeitsalltag in den Dorfhaushalten, in dem man keine Zeit für Träumereien hat, aus: Sie „streunte über Sandwege und Trampelpfade, lief bis zum Hünengrab und legte sich ins Heidekraut.“…Sie legte gesammelte Pflanzen mit Löschpapier in den Shell-Atlas ihres Vaters Sönke. Auch sammelt sie tote Tiere, erfährt man. Was wirklich los ist mit Marret Feddersen, wird ihrem Sohn erst bewusst, als seine Mutter plötzlich verschwunden ist. Es kommt zu einer bewegenden Szene: Ingwer betritt ihr jetzt verwaistes Zimmer und blättert in dem Shell-Atlas, in den Marret beispielsweise Klatschmohnblüten, Pfennigkraut, Glockenblumen und Wiesenschaumkraut gepresst hat. Er hat jetzt einen Stapel alter Schulhefte in der Hand: Seine Mutter hatte Pflanzen und Tieren gezeichnet und dazu Erläuterungen geschrieben. Sie hatte notiert, wie die Vögel, Frösche, Kälber in ihrer Heimat klingen. Und die Winde: raschelig in den Eichenkronen, flüsterlich in den Pappeln. In diesem Moment ist Ingwer seiner jetzt verschwundene Mutter näher denn je: Sie hatte die Geräusche ihres Dorfes, von denen nach der Flurbereinigung einige verloren gegangen waren, für alle Zeit aufgehoben. Es gibt zauberhafte Momente auf den 320 Seiten. Etwa als Heini Wischer im dichten Schnee nach dem Morgenmelken eines seiner Pferde aus dem Stall holt und mir ihm redet: „Denn komm man“ (den Dialekt der Brinkebüller liest man oft in dem Buch). Heini Wischer spannt das Pferd vor seine alte, eingestaubte, rostige Schlittenkutsche, trägt seine Mutter, deren Beine nicht mehr wollen, aus dem Haus, legt behutsam eine Decke über sie und fährt sie durch die Winterlandschaft. Dörte Hansen schreibt: „Lehrer Steensen ließ die Schüler von den Bänken aufstehen und ans Fenster gehen, als das Gespann vorbei gebimmelt kam, er lief dann schnell mit seinem Fotoapparat heraus und machte ein Bild von ihnen, Käthe Wischer und Sohn Heinrich in der alten Schlittenkutsche. Für die Chronik.“ In diesem Moment ist den Lesern sogar Steensen irgendwie sympathisch, was aber seine Ausbrüche gegenüber seinen Schülerinnen und Schülern nicht rechtfertigt.
Das Althergebrachte weicht dem Neuen
Und wie wird Gastwirt Sönke Feddersen damit fertig, dass seine Tochter Marret einen unehelichen Sohn bekommt? Wer der Vater ist, werden wohl nur Marrett und ihr unbekannte Verehrer wissen (Ist er vielleicht einer der Landvermesser bei der Flurbereinigung?) In so einem Dorf wie Brinkebüll wird über uneheliche Kinder nicht gut geredet. Sönke hat aber den Moment im Auge, wenn er die Neuigkeit bekannt geben wird: Scheinbar spontan, wenn seine Kneipe mit Gästen voll besetzt ist. Er gibt zu später Stunde einen aus und informiert seine Mitbürger darüber, dass ein uneheliches Kind seiner Tochter unterwegs ist. Damit hat der Wirt alles geregelt: Ab sofort nimmt das Dorf das Kind akzeptierend zur Kenntnis. Als der Junge geboren ist und nicht mehr aufhören will zu schreien und niemand einen Rat weiß, nimmt Sönke den kleinen Ingwer wärmend unter seine Jacke und Opa und der Enkel machen bald friedlich ein Nickerchen. Dieses friedlich Bild wird es dann öfters geben. Gegen Ende des Romans wird geschildert, wie sich im Dorf mit der Modernisierung das Althergebrachte nach und nach auflöst und dem Neuen weicht wie der Dorfladen dem Billiggeschäft Aldi. Auch Bauernhöfe verschwinden. Und viele der von Marret in ihren Heften festgehaltenen Geräusche der Natur sind nicht mehr zu hören. Was noch zu hören ist, sind die Songs aus Neil Youngs „Harvest“, die Ingwer Fendersen so liebt und im Auto hört, wenn er wieder mal nach Kiel fährt und dann zurück, wenn er seine Großmutter besucht. Sie wird jetzt als Demenzpatientin gepflegt und hat ihr Dorf Brinkebüll vergessen.
„Mittagsstunde“ von Dörte Hansen ist im Penguin-Verlag erschienen, hat 320 Seiten und kostet 22 Euro, ist auch als Hörbuch erschienen.