Judith Kuckart

Bewegende Gespräche am Sorgentelefon

von Jörg-Peter Schmidt

Als die rund 40 Zuhörerinnen und Zuhörer im KiZ (Kultur im Zentrum) in Gießen Platz genommen hatten, erblickten sie – symbolisch aufgestellt – ein schwarzes Telefon von anno dazumal mit der damals üblichen runden Wählscheibe – dies nicht ohne Grund. Denn um die Telefonseelsorge geht es im Roman „Café der Unsichtbaren“, das die Autorin Judith Kuckart vorstellte.

Vier Jahre Praxis bei der Telefonseelsorge

Die Schriftstellerin hat auch noch einen Werdegang als Tänzerin und Theaterregisseurin, erläuterte die im Laufe des Abends stets einfühlsam agierende  Moderatorin Christina Hohenemser in der Veranstaltung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG). Als Judith Kuckart 50 geworden war, entschloss sie sich zu einem sozialen Engagement und so absolvierte sie eine zweijährige Ausbildung zur Telefonseelsorgerin, berichtete dann die in Berlin lebende Erzählerin selbst. Das Erlernte setzte sie vier Jahre lang in Berlin in der Praxis um.

Ihre Erfahrungen,  wenn fremde Menschen an der Strippe über ihre Ängste, Sorgen, Wünsche, Träume, positive, auch witzige Ereignisse oder einfach über ihr Alltagsgeschehen sprechen, hat sie in ihrem im Verlag DuMont erschienenen Roman  verarbeitet. Allerdings verrät sie darin – seriös – nicht etwa die Protokolle von Unterhaltungen, die Anrufer mit ihr geführt haben.  Zumal die Gespräche bei Telefonseelsorge nicht an die Öffentlichkeit kommen dürfen.

Viele der Anrufe sind sehr emotional

Worum geht es in der Erzählung der gebürtigen Schwelmerin aus  Westfalen? Sieben Ehrenamtliche nehmen im  Auftrag eines Berliner „Sorgentelefons“ Anrufe entgegen, von denen nicht wenige einen bewegen, aufwühlen oder zornig machen. Da ruft beispielsweise mehrmals jemand an, der einräumt, pädophil zu sein.  Oder jemand, der ankündigt, in einigen Jahren Papst zu werden.

Es gibt aber auch andere Arten von Anrufern. Eine Teenagerin schildert, dass sie ihre Zahnspange verloren hat: „Alle Zähne wieder schief und verschoben. Weint: ‚Jetzt sehe ich wie ein ganz dummes Mädchen aus’“, heißt es im Buch, das aus der Sicht einer etwa 80-jährigen Mitarbeiterin beim “Sorgentelefon“ geschrieben ist.  

Dass jemand einem einfach mal zuhört
Symbolisch stand ein Telefon aus früheren Zeiten auf dem Podiumsplatz. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)

Man fühlt förmlich mit dem Team der Telefonseelsorge die Sehnsucht nach, so manchem der Anrufer bei kleineren oder größeren Problemen helfen zu können. Allerdings gehe es für viele der Gesprächspartner in erster Linie darum, dass ihnen einfach jemand mal in Ruhe zuhört, weiß Judith Kuckart  aus ihren eigenen Erfahrungen. Eine nachdenklich stimmende Aussage der Schriftstellerin, aus der die Vereinsamung unserer Gesellschaft (auch schon vor Corona) spricht. 

Sprache im Roman wie ein wunderbarer Maler

Anonymität beschreibt auch das Cover des Romans, den einige der Zuhörer zur  Lesung mitgebracht hatten (oder den sie später am Büchertisch kauften): Man schaut in der Dämmerung auf die Fenster eines Hauses. In den jeweiligen Zimmern brennt Licht. Aber man sieht keine Menschen hinter den Fassaden.

Die Autorin rezitierte aus einigen Kapiteln ihres Buches, das man am besten behutsam, einfach in aller Ruhe liest. Man bleibt gern bei manchen Sätzen hängen und liest sie noch mal. Denn Judith Kuckart, die bereits mit mehreren  ihrer Bücher (darunter „Lenas Liebe“) Erfolg hatte, spricht eine wunderbare malerische Sprache in „Café der Unsichtbaren“.  Ihr gelingen Bilder wie etwa auf Seite 13: „Hinter dem Haus floss ein Kanal. Die Bäume an seinen Ufern sahen bei hohem Wasser aus wie Damen, die ihre Röcke rafften“.  Oder auf Seite 22. „Es folgte ein Augenaufschlag, der war blau, so blau. Ich konnte die Augen dieser Frau hören.“

Auf einmal wird man neugierig auf Beethoven

Und es gibt Stellen im Buch, da fühlt man sich animiert, zu googeln,  auch mal eine  berühmte Komposition anzuhören.   Auf Seite 35  wird vom 1805 bis1806 entstandenen 4. Klavierkonzert von Beethoven gesprochen, dessen letzter Ton klinge, „wie wenn ein Zweig bricht.“ Weiter heißt es an dieser Stelle:  „Es ist ein eingestrichenes g, dieser letzte Ton. Schon als Kind schien er mir eine Öffnung meiner Seele zu sein.“  Und schon beginnt man tatsächlich zu recherchieren.  Auf der Homepage von „BR Klassik“ erfährt man im Internet,  Robert Schumann habe das Werk als „Beethovens als vielleicht größtes Klavierkonzert“ gepriesen.  Da möchte man doch schnellstmöglich  dem Klavierkonzert lauschen und auf den Schluss besonders zu achten.

Gespräche wollen erst mal verarbeitet sein
Das Cover des Romans.

Um noch mal auf das eigentliche Thema des Buches zurückzukommen: Als Christina Hohenemser das Publikum bat, Fragen an die Autorin zu stellen,  ging es auch um die Emotionen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Telefonseelsorge. Nach den aufwühlenden  Gesprächen mit den Menschen, die sie persönlich nicht kannte, habe sie schon eine Zeit lang gebraucht, um das Gehörte zu verarbeiten, schilderte die Schriftstellerin ihre Gefühle. Ruhiger geworden sei sie dann bei den langen Fahrten von ihrem Arbeitsplatz nach Hause. Aber ohne Emotionen verlasse man das Telefon nicht.

Es gab sehr langen Applaus  am Ende der  eindrucksvollen Lesung.

„Café der Unsichtbaren“ ist im DuMont-Verlag erschienen, hat 208 Seiten und kostet 23 Euro. 

Titelbild: Im Gespräch über das „Café der Unsichtbaren“: Judith Kuckart (links) und Moderatorin Christina Hohenemser (Stellvertretende LZG-Vorsitzende). (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)

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