Wimmelbilder im „Schauerroman“
von Jörg-Peter Schmidt
Wunderbare literarische Wimmelbilder präsentierte der Schriftsteller und Übersetzer Gerhard Henschel im Gießener KiZ (Kultur im Zentrum). Der Begriff Wimmelbilder passt deshalb deshalb, weil Henschels aktuelles Buch „Schauerroman“ mit dem fiktiven Erzähler Martin Schlosser als Hauptdarsteller eine Rahmengeschichte enthält, die sich wiederum in zig Einzelstorys splittet.Kaum Luft zum Atemholen
Die rund 40 Zuhörerinnen und Zuhörer in der gemeinsamen Veranstaltung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) und der Walter-Kempowski-Gesellschaft (KG) hatten kaum Luft zum Atemholen: Die mittlerweile neunte Martin-Schlosser-Erzählung ist wiederum von so vielen spannenden, witzigen und hintergründigen Einfällen geprägt, dass man das im Verlag Hoffmann und Campe erschienene Buch beim Lesen gar nicht zur Seite legen will.
Roman basiert auch auf persönlichen Erfahrungen
Aber wer ist Martin Schlosser? Nachdem LZG-Geschäftsführerin Hannah Brahm und Moderatorin Julia Stein (Vorsitzende der Kempowski-Gesellschaft) Henschel (Mitarbeiter unter anderem beim Satire-Blatt „Titanic“) vorgestellt hatten, sorgte der in Hamburg lebende freie Autor selbst für Aufklärung. Schlossers Leben hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Werdegang des Walter-Kempowski-Fan Gerhard Henschel, der nicht nur der „Titanic“-Redaktion angehörte: Veröffentlichungen von ihm gibt es etwa bei „Kowalski“, bei „Merkur“ und in „Konkret“.
Auch das Familienleben Martin Schlossers basiert in weiten Teilen auf Henschels persönlicher Erfahrung. Ebenfallls die Tatsache, dass der Vater immer schwächer wird und schließlich stirbt. Der Schriftsteller berichtete dem Gießener Publikum vom schweren Schicksal des Vaters, den nicht nur der Zweite Weltkrieg seelisch und körperlich schwächte, sondern auch die Kriegsgefangenschaft durch die Sowjetunion. Das typische Schicksal der damaligen Zeit eben, verursacht durch den vom Hitler-Regime angezettelten Krieg.
Es wimmelt in der Tat nur so in der Erzählung
Der „Schauerroman“ hat also auch seine ernste Seite. Vorwiegend ist er aber bissig-humorvoll. Die Handlung, die im Jahr 1992 spielt, in aller Kürze: Martin Schlosser (30) arbeitet an seinen ersten Büchern. Auf seinen Lesereisen lernt er die neuen Bundesländer von ihren Schattenseiten kennen, verliebt sich immer wieder, bleibt aber überzeugter Single. Während er als Journalist und Autor immer erfolgreicher wird, geht es, wie bereits erwähnt, seinem verwitweten Vater in der emsländischen Kleinstadt Meppen immer schlechter.
Um gleich noch mal zum Begriff literarisches Wimmelbild zurückzukommen: In den Kapiteln des „Schaueromans“ werden Dutzende bekannte Persönlichkeiten im Rahmen der Einzelgeschichten im Rahmen der Handlung mehr oder minder ausführlich erwähnt. Beispielsweise Karl Valentin, Wim Wenders, Karl Kraus, Karl Mildenberger (Boxer), Tom Waits, Wolf Biermann, Stephan Remmler. Harry Rowohlt, Eckard Henscheid, Max Goldt und Franz Alt.
„Blowin in the Wind“ mal ganz anders
Und Bob Dylan, zu dem Henschel eine besondere literarische Beziehung hat. Er ist zusammen mit Kathrin Passig Übersetzer von Dylans erstem Band seiner „Chronicles“. Aber dennoch rüttelt er halt (ein bisschen) am lebenden Songpoeten-Denkmal. Auf Seite 205 schlägt eine gewisse Kathrin dem Martin Schlosser Folgendes vor, nachdem die beiden eine Liste der zehn schlechtesten Dylan-Songs erstellt haben: Der „alte Lagerfeuerheuler“ „Blowin in the Wind“ könne doch mal versuchsweise ins gebrochene Deutsch übersetzt werden. So heißt es jetzt in der „Übersetzung“ unter anderem: „Nixe wisse, wohin Mann musse gehe, bis heiße riktige Mann…Riktig Antwort, gutt Freund, musse feife inne Wind…“
Der Hilfeschrei vor der Discounter-Kasse
Der bereits mehrfach ausgezeichnete Erzähler, , der jetzt auch noch den „Kasseler Preis für grotesken Humor“ erhält, ist für eine Überraschung immer gut – und so erlebte man Henschel (was ist ernst gemeint, was nicht?) zum Abschluss dieses sehr unterhaltsamen Abends als „Liedermacher“ Wie er berichtete, gehöre zu seinem Bekanntenkreis der Komponist Christian Hans Bruhn (Jahrgang 1934), der beispielsweise Hits wie „Zwei kleine Italiener (Conny Froboess, 1962) und „Marmor, Stein und Eisen bricht“ (Drafi Deutscher, 1965) geschrieben hat. Für den Erfolgskomponisten habe Henschel einen Text geschrieben, der sich um die verzweifelte Forderung von Kunden in Lebensmittelläden dreht, doch eine weitere Kasse zu öffnen.
Wie realistisch dieser Text bzw. Song ist, hatte der Verfasser dieses „Landbote“-Berichts am Morgen vor dem Henschel-Gastspiel als Discounter-Kunde selbst erlebt: Vor der einzig geöffneten Kasse hatte sich eine „Schlange“ von etwa fünf bis sechs Wartenden gebildet und schon tönte durch den ganzen Laden der Hilfeschrei: „Bitte öffnen sie doch eine weitere Kasse!!!“…
„Schauerroman“ ist bei Hoffmann und Campe erschienen, hat 592 Seiten und kostet 26 Euro.
Titelbild: Der Autor im Gespräch mit Moderatorin Julia Stein. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)
“ … „Nixe wisse, wohin Mann musse gehe, bis heiße riktige Mann…Riktig Antwort, gutt Freund, musse feife inne Wind…“ …“
Das ist von Wiglaf Droste, nicht von Henschel !
Zum Kommentar zu Gerhard Henschels Lesung. Ich habe im Internet noch mal recherchiert. Unter der Homepage „Second Hand Songs“ heißt es zu „feife inne Wind“: Lyrics by Wiglaf Droste, Gerhard Henschel, Katharina Passig. Demnach ist Gerhard Henschel als Autor beteiligt.
Was die Interpretation des Liedes, dessen Original bekanntlich von Bob Dylan ist, betrifft: Es gibt Videos, auf denen Wiglaf Droste „feife inne Wind…“ vorträgt. Jörg-Peter Schmidt (Landbote-Autor)