Friedberg anno 2030

Eine Blütezeit für die Kreisstadt

Von Klaus Nissen

Mit spöttischen Kommentaren reagieren viele Friedberger, wenn man sie fragt, was sie von ihrer Stadt halten. Sie mache nichts aus sich, finden sie. Die Altstadt und die zentrale Kaiserstraße würden vernachlässigt, das Kaufhaus Joh im Herzen der Stadt stehe seit Jahren leer. „Es ist ein bisschen ungepflegt bei uns“, meint Ulf Berger, der Sprecher der rund 50 Mitglieder zählenden Werbegemeinschaft „Friedberg hat’s“. Die Lokalpolitik brauche auch viel zu lange, das Filetgrundstück der früheren US-Kaserne zu entwickeln. „Da ist kein roter Faden“, sagt der Inhaber eines Lederwaren-Fachgeschäfts. Aber stimmt das? Verkaufen sich die Friedberger da nicht unter Wert?

Friedberg hat noch viel Potenzial

Tatsächlich hat die Wetterauer Kreisstadt kein markantes Profil, wie etwa das schicke Bad Nauheim nebenan. Andererseits sind die Potenziale dieser Kommune sehr groß. Und es gibt Menschen, die sich kreativ und engagiert darum kümmern, Friedberg wieder zur „Perle der goldenen Wetterau“ zu machen, wie die Stadt anno 1927 in einem Werbefilm genannt wurde. Der Erfolg hat schon eingesetzt – die Einwohnerzahl wächst. Die Kauf- und Mietpreise bleiben erträglicher als weiter südlich in Richtung Frankfurt. Friedberg ist aus allen Richtungen gut zu erreichen; die Stadt bietet moderne Arbeitsplätze, viele Schulen und eine expandierende Technische Hochschule. Im Zentrum gibt es ein breites Sortiment an Geschäften und ein – wenn auch ausbaufähiges – Kulturleben. Und mit dem großen Gelände der früheren US-Kaserne hat Friedberg „einen der interessantesten Entwicklungsräume in ganz Deutschland“, sagt Bernd-Uwe Domes von der Wetterauer Wirtschaftsförderung.

Ulf Berger, Sprecher der Aktionsgemeinschaft „Friedberg hat’s“, findet die Gegenwart seiner Stadt eher trist. Aber er sieht für die Zukunft ein großes Potenzial. Und den Klimawandel nahmen die Geschäftsleute im Sommer schon mal vorweg: An vielen Stellen (hier neben der Stadtkirche) stellten sie große Palmen ins Stadtbild. Foto: Nissen

Es wird allerdings Zeit, dass Friedberg mehr von sich reden macht. Die Ruhmesblätter der Stadt wuchsen teils in ferner Vergangenheit. Zur Weihe des immer noch ansehnlichen Stadtkirchen-Hochaltars reiste anno 1306 der deutsche König Albrecht I. an. Im 14. Jahrhundert war die Reichsstadt Friedberg zwischen Wien, Lübeck und den Niederlanden für ihre feinen Tuche berühmt. Friedberg stand in der Bedeutung, Größe und Wirtschaftskraft mit Frankfurt auf einer Stufe. Das war schon um 1500 vorbei, doch immer wieder brachte die Stadt weit über sie hinaus wirkende Geistesgrößen hervor. Beispielsweise Martin Luthers Weggefährten Erasmus Alberus, viel später den mit dem Georg-Büchner-Preis geadelten Schriftsteller Henry Benrath und heutzutage den Dramatiker René Pollesch, den Historiker Herfried Münkler und den Schriftsteller Andreas Maier. Letzterer beschreibt in seinen Büchern das Innenleben dieser längst nicht mehr ländlichen Kreisstadt am Nordrand des Rhein-Main-Ballungsraumes.

Zentraler kann die Lage kaum sein

In Zahlen ausgedrückt, besteht Friedberg aus einem Zentrum und fünf Stadtteilen auf einer 830 Hektar großen Fläche zwischen Frankfurt und Gießen. Versiegelt ist davon nur etwa ein Viertel. Die Stadt liegt jeweils etwa 15 Autominuten von der A5 und der Sauerlandlinie entfernt. Ins Umland gibt es diverse Busverbindungen. Mit der Bahn kann man Friedberg direkt von Friedrichsdorf, Wölfersheim und Nidda aus ansteuern. Die Main-Weser-Bahn befördert die Friedberger in 27 Minuten zum Frankfurter Hauptbahnhof. Nach Gießen dauert die Fahrt im ICE nur 16 Minuten. Die Zahl der Einwohner wuchs in den vergangenen 20 Jahren um zehn Prozent auf knapp 30 000 Köpfe. Geplant werden Quartiere für mehr als 5000 weitere Bürger. Das Statistische Landesamt beziffert die mittleren Jahreseinkünfte der rund 14 000 Steuerpflichtigen auf 40 068 Euro. Die Bad Nauheimer verdienen im Schnitt 7000 Euro, die Bad Vilbeler sogar knapp 15 000 Euro mehr.

Die Gewerbesteuer-Einnahmen für 2020 taxierte die Kämmerin Marion Götz (SPD) vor der Corona-Epidemie noch auf 16 Millionen Euro – es werden nun wohl deutlich weniger. Doch der breite Branchenmix und einige Schwergewichte unter den hier angesiedelten Betrieben sichern auch für die Zukunft stabile Einnahmen. Da gibt es die Produktionsanlagen von Fresenius Kabi, in denen gut 750 Arbeitnehmer unter anderem Infusionslösungen herstellen und täglich mehr als tausend Tonnen Medikamente und Medizintechnik zu den Kunden schicken. Die Deutschland-Zentralen der Autohersteller Mitsubishi und Subaru liegen in Friedberg, ebenso die Roboter-Konstrukteure von ABB und die Erich Jaeger GmbH – ein Hidden Champion, der weltweit Steckverbindungen für die Lastwagen-Elektrik herstellt. Tausende Büroarbeitsplätze bieten die Sparkasse Oberhessen, die Volksbank Mittelhessen, diverse Behörden und der Ovag-Konzern, der drei Landkreise mit Gas, Strom und Wasser versorgt. Er ist systemrelevant und innovativ – so wie die Friedberger Stadtwerke. Die bieten der Bevölkerung ein Energie-Contracting an, vermerkt Bürgermeister Dirk Antkowiak (CDU). Sie installieren auf eigene Kosten moderne, nachhaltige Heizungstechnik in alte und neue Wohnhäuser und lassen sich für die Wärmelieferung bezahlen. Das geschieht beispielsweise im letzten noch auf Ackerland geplanten Neubaugebiet am Steinern Kreuzweg westlich der Kernstadt, wo die SPD auf städtisch subventionierte Kaltmieten von acht Euro pro Quadratmeter dringt. Die sollen für wenigstens 40 der etwa 150 neuen Wohnungen gelten, sagt der Fraktionschef Klaus-Dieter Rack.

Bürgermeister Dirk Antkowiak (CDU) und die Erste Stadträtin Marion Götz (SPD) sind seit etwas mehr als einem Jahr dafür verantwortlich, der Kreisstadt Friedberg Wohlstand und Attraktivität zu ermöglichen. Foto: Nissen

Beim Wohnungsbau setzen die Friedberger für die Zukunft nicht auf Ein-oder Zweifamilienhäuser mit Gärtchen und Carport. Sie bauen Geschoss-Wohnungen auf Konversionsflächen in zentraler Lage. Auf dem Gelände der früheren Zuckerfabrik am Bahnhof errichtet ein Bauträger aus Idstein gerade ein weiteres Haus mit 19 neuen Eigentumswohnungen. Ein Investor aus Dietzenbach hat es geschafft, das seit gut vier Jahrzehnten brach liegende Gelände der Maschinenfabrik Reuß im Herzen Friedbergs aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Der Rohbau für 54 Eigentumswohnungen mit insgesamt einem halben Hektar Wohnfläche ist fertig. Alle Einheiten sind verkauft, meldet das Unternehmen.

Das frühere Kaufhaus Joh steht seit vielen Jahren leer. Das entwertet – noch – den erneuerten Presley-Platz im Zentrum der Stadt.

Auch Bestandswohnungen gibt es in Friedberg noch zu mieten oder kaufen. An einem beliebigen Werktag bot das Portal Immoscout24 zum Beispiel 39 Eigentums- und 42 Mietwohnungen an. Für eine 50 Quadratmeter kleine Single-Bude muss man mit einer Kaltmiete von rund 600 Euro rechnen. Die „charmante Altbauetage“ ist mit ihren 114 Quadratmetern und 980 Euro Kaltmiete vergleichsweise günstig.

Die Altstadt wird von ärmeren Familien bewohnt

Wem all das zu teuer ist, der lebt in der Altstadt. Der historische Stadtkern wird von der bis zu 60 Meter breiten Kaiserstraße geteilt, die im 14. Jahrhundert der Marktplatz für die berühmten Friedberger Tuche war. An seinem Rande stehen immer noch Bürgerhäuser aus dieser Zeit.

In den verwinkelten Häusern der Altstadt leben viele Menschen mit geringem Einkommen.

Die wohl seit Römer-Zeiten besiedelte Osthälfte der Altstadt, rund um den Fünf-Finger-Platz, ist seit Jahrzehnten städtebauliches Sanierungsgebiet. Dort wurde eine Grundschule modernisiert, im ehemaligen Kloster entstand eine moderne Stadtbücherei. Doch in den winkligen Häuschen wohnen mehr arme Leute als in anderen Stadtteilen. Manche Gebäude sind zu überfüllten Absteigen für bulgarische Saisonarbeiter geworden. Immer wieder gab es Beschwerden über herumliegenden Müll – bis die 2018 gewählte Ordnungsdezernentin Marion Götz eingriff. „Jetzt wird täglich durchgereinigt“, sagt die Erste Stadträtin mit SPD-Parteibuch. Sozialarbeiter und Bildungsangebote sollen die Lage der Altstadt-Bewohner und ihrer Kinder verbessern. Doch eine schnuckelige Altstadt mit Außengastronomie für Einheimische und Tagestouristen wie in Kronberg, Bad Nauheim oder Büdingen wird es wohl auch in zehn Jahren in Friedberg nicht geben.

Touristen könnten hier jede Menge Entdeckungen machen

Touristen finden in Friedberg trotzdem jede Menge Sehenswürdigkeiten – wenn sie denn davon erfahren. An der Kaiserstraße werde bald ein Infoschalter öffnen, verspricht der Bürgermeister. Die Stadtverwaltung werde wahrscheinlich einen der kleinen, leer stehenden Läden mieten und dort Stadtführungen anbieten. Beispielsweise zur Mikwe, dem 25 Meter tief liegenden Frauenbad des einstigen Ghettos. Gebaut wurde die Mikwe um 1260 in der Judengasse von den selben Handwerkern, die 200 Meter weiter die gewaltige Stadtkirche errichteten. Sehenswert und nur wenige Schritte entfernt ist auch die riesige Burg-Anlage mit dem gepflegten Park und dem jetzt als Finanzamt dienenden Renaissance-Schloss. Einen Blick über die Stadt und die ganze Wetterau bietet die Galerie auf dem Adolfsturm. Die Burg-Besatzung hat ihn angeblich 1347 mit dem Lösegeld für den gekidnappten Grafen Adolf von Nassau finanziert.

Das Werben um Tagestouristen ist ein Herzenswunsch des Einzelhändlerverbandes. Denn die durch Friedberg bummelnden Frankfurter und frisch am Flughafen angekommenden Kurzzeit-Gäste beleben die Kaiserstraße und lassen Geld in den trotz des Online-Booms immer noch zahlreichen Fachgeschäften. Die können sich dann auch in den nächsten zehn Jahren noch halten, meint der Verbandsvorsitzende Jochen Ruths. Der Inhaber eines Textilgeschäfts an der Burg ist auch Präsident des Hessischen Handelsverbandes. Er sagt: „Wenn das Konzept und die Mieten stimmen, funktioniert es auch in kleinen Einheiten.“ In den Lädchen werde man im Jahr 2030 mit „Augmented Reality“ die Kunden beraten und ihnen die gewünschten Waren und Dienstleistungen dann frei Haus liefern können.

Stadt und Werbegemeinschaft sorgen mit Events für Zulauf auf der Kaiserstraße. Sie organisieren im Sommer „Feierabendtreffs“ mit Livemusik, stellen eine kilometerlange Frühstückstafel auf die dann für Autos gesperrten Kaiserstraße. Und lassen Kinder und Erwachsene einen ganzen Tag lang Spiele ausprobieren, die der in Friedberg gewachsene Spiele-Verlag „Pegasus“ bereitstellt. Vor und nach der Corona-Zeit gibt es auch Konzerte im Burggarten, Musik und Theater im ehemaligen Jugendstil-Hallenbad, das ein Förderverein ehrenamtlich zum Kulturhaus umbaut und bespielt. Im großen Rathaus-Park bietet die Stadt ebenfalls Musik und im Sommer Freiluft-Kino an. In einem oder zwei Jahren wird es auch wieder ein „echtes“ Kino geben, sagt Bürgermeister Antkowiak. Gebaut werde ein großes Cineplex-Lichtspielhaus am Südrand der Kernstadt, gegenüber der früheren Ray-Kaserne.

Die Kaserne steht seit Jahren leer

Dieses ehemalige Militärgelände ist das Hauptkapitel in der Entwicklungs-Agenda Friedbergs. Es ist 74 Hektar groß und leicht nach Süden geneigt. Anno 2008 zogen die letzten US-Soldaten ab. Seitdem verfällt der legendäre Capri-Club, in dem der wehrdienstleistende Megastar Elvis Presley zwischen 1958 und 1960 abhing und Konzerte gab. Bis zu 7000 Menschen könnten in der Ex-Kaserne Wohnraum finden, hieß es vor zwölf Jahren. Doch die Verhandlungen der Stadt mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben zogen sich ergebnislos hin. Der neue Bürgermeister und die Erste Stadträtin wollen die ehemalige Kaserne möglichst bald beleben. „Wir fangen ganz von vorne an“, sagt Dirk Antkowiak. Der Magistrat hat das Integrierte Stadtentwicklungskonzept „Isek“ angestoßen und die Webseite friedberg-mitmachen.de freigeschaltet, damit möglichst viele Bürgerinnen und Bürger ihre Ideen zur Entwicklung der Kaiserstraße und der früheren Kaserne formulieren. Parallel wurden im Sommer auf dem Kasernengelände Bohrungen gemacht, um Altlasten und Munitionsreste im Boden aufzuspüren. Deren Beseitigung zahlt der Bund. Wohnungen für etwa 5000 Menschen, eine Stadthalle, Schule, Kitas, ein neuer Bauhof, Grünzüge und innovative Firmen sollen auf dem Gelände in Sichtweite zu den Frankfurter Hochhäusern entstehen. Allerdings werde allein die Bauleitplanung noch mindestens vier Jahre dauern, dämpft der Bürgermeister die spürbare Ungeduld der Bürger. Derweil melden sich bei ihm immer wieder Investoren, die das Areal gerne vom Bund kaufen und gemeinsam mit der Stadt entwickeln wollen.

Bernd-Uwe Domes von der Wetterauer Wirtschaftsförderung findet es gar nicht so schlecht, dass sich die Verwertung dieses riesigen Geländes verzögert hat. Nun gebe es hier die Chance, energiesparende, innovative und bezahlbare Wohnungen zu bauen. Und zugleich einen „Gewerbepark der Zukunft“, in dem Betriebe siedeln, die hochwertige Technik und Dienstleistungen anbieten. Dem Wirtschaftsförderer schwebt eine „Wissensstadt mit Campus-Charakter“ vor, in der gut qualifizierte Menschen arbeiten und auch wohnen können. Zur Zielgruppe gehören die Absolventen der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM), die am Rande der Ex-Kaserne bereits in einem Anwenderzentrum gemeinsam mit Firmen neue Produktionstechniken entwickeln. Mehr über die Rolle dieser Hochschule in Friedberg erscheint am 14. Oktober im Neuen Landboten.

Der neue Stadtteil auf dem 74-Hektar-Gelände im Süden Friedbergs wird nach Domes Überzeugung jedenfalls „ein unglaublicher Gewinn für die Menschen, die Betriebe und die wirtschaftliche Stärke der Stadt“. Geradezu eine Blaupause dafür, wie eine mittlere Kommune am Rande eines Ballungsraumes überleben und Funktionen der überlasteten Metropole Frankfurt zum eigenen Nutzen übernehmen kann.

Bevölkerung soll Visionen liefern. Aber kann sie das?

Bis das alles gelingt, wird es aber noch dauern. Für die Bevölkerung ist es nicht einfach, konkrete Zukunftsvisionen deutlich zu formulieren. Dann braucht es Kapital und „mitspielende“ Behörden. Niemand kann die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben zwingen, ihre attraktiven Flächen in Friedberg früh freizugeben. Das Eisenbahnbundesamt zeigt bislang kein Interesse daran, den Abriss der Ruinen auf dem 35 Hektar großen Güterbahnhof zugunsten eines Solarfeldes oder anderer Projekte zu genehmigen. Auch die ersehnten Aufzüge zu den Bahnsteigen kommen frühestens zur Mitte des Jahrzehnts. Die eigenen Gleise für die S-Bahn nach Frankfurt werden den Bahnhof wohl erst in den späten Zwanzigern erreichen. Sei’s drum. Das neue Friedberg ist schon geboren und wird beständig wachsen.

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