Einkaufen

Shuttlebus zum Supermarkt

Von Klaus Nissen

Hans Goldstein hilft Marlis Elvenhohl beim Aussteigen. Die 79-Jährige lebt seit 40 Jahren in Bobenhausen. Nach dem Tod ihres Mannes ist sie allein und ohne Auto im Dorf. Bei den Busfahrten zum Einkaufen komme sie auch mit anderen Menschen ins Gespräch, sagt sie. Foto: Nissen
Wer ohne Auto weit draußen in Steinberg, Wolf oder Blofeld wohnt, ein Problem. Vor allem, wenn man schlecht zu Fuß ist und keine Verwandten oder Nachbarn hat, die einen zum Einkaufen mitnehmen. Doch für die Menschen in den Dörfern rund um Ortenberg gibt eine Lösung: Den Service-Bus. Zweimal pro Woche holt er sie ab und fährt sie zum Edeka-Markt von Roger Olbrich. Der Zubringer ist kostenlos, und am Steuer sitzt eine Autorität: Hans-Werner Goldstein, der Ortsvorsteher von Wippenbach.

Abhol-Service zum Einkaufen

Jeden Dienstag und Donnerstag um zehn vor neun steigt Hans Goldstein in den bunt beklebten Kleinbus. Der 68-jährige ist ein ruhiger Mann mit kurzem grauem Vollbart und schwarzer Basecap. Er lenkt den Wagen von den Wendelsgärten in Ortenberg zuerst nach Bellmuth – doch das Dorf wirkt menschenleer. Niemand wartet an der Bushaltestelle vor dem Backhaus. „Zwei Damen haben telefonisch abgesagt“, sagt der Chauffeur. „Sie haben Angst wegen des Corona-Virus. Jetzt sollen die Kinder für sie einkaufen.“

Fünf Minuten später hält der bunte Kleinbus am Dorfbrunnen von Bobenhausen. Drei ältere Damen steigen ein. Im Bus ist genug Platz, damit sie den gebotenen Abstand halten können. Eine sagt: „Hier gibt es ja seit 30 Jahren keinen Lebensmittelladen mehr. Nur einen Metzger, der freitags kurz aufmacht.“ Einen regulären Bus nach Ortenberg gibt es von Bobenhausen aus nicht. Sie könne zwar mit der Tochter zum Einkaufen fahren. Doch das werde leicht stressig, wenn die jungen Leute in Zeitnot sind. „Ich fahre extra mit dem Edeka-Bus. Mir gefällt es, am Donnerstag rauszukommen.“ Da könne sie unterwegs mit Hans Goldstein und den Mitfahrerinnen reden. Und in Ortenberg habe sie eineinhalb Stunden Zeit bis zur Rückfahrt.

Der Ortenberger Edeka-Leiter Roger Olbrich (rechts) hatte die Idee, Kunden mit dem Kleinbus aus entlegenen Dörfern abzuholen. Der Service-Bus werde auch in Zeiten der Corona-Krise fahren, so lange es möglich ist. Seit Juni 2018 chauffiert Hans-Werner Goldstein (links) vorwiegend ältere Damen übers Land. Seine älteste Stammkundin zählt 90 Lenze – und weigert sich laut Goldstein beharrlich, ihre Einkäufe ins Haus tragen zu lassen. Der 68-Jährige kümmert sich auch als Ortsvorsteher von Wippenbach um seine Mitmenschen. Foto: Nissen

Es geht aber nicht direkt in die Kernstadt. Zuerst steuert Hans Goldstein das heimische Wippenbach an, wo er stolz auf den frisch erneuerten, aber momentan leider für Kinder gesperrten Spielplatz deutet: „Den hat unser Ortsbeirat selber renoviert. Der Supermarkt-Leiter gehörte zu den Spendern, genau wie bei den Weihnachtsmärkten. So haben wir uns kennengelernt.“ Im Juni 2018 schickte der damals 36 Jahre junge Roger Olbrich zum ersten Mal den nagelneuen Servicebus auf die Runde durch die Dörfer. Ursprünglich habe er an einen Lieferservice gedacht, erzählt er später. „Aber der wäre in keiner Weise wirtschaftlich.“ Zu viel Personalaufwand. „Da ist es doch besser, die Leute zum Einkaufen herzuholen.“ Auch das koste ihn zwar ebenfalls Geld, aber das sei es ihm wert. Ähnliche Zubringer-Bussysteme kennt Olbrich nur aus Grünberg und Berstadt. Vor allem für alleinstehende und verwitwete Frauen höheren Alters sei der Zubringerbus segensreich. Sie brauchen ihn, wenn die Ehemänner, die meistens lieber Auto fahren, gestorben sind. Weil es in den nächsten Jahren in den kleinen Orten immer mehr alte Menschen geben wird, müssten dann wohl die Gemeinden solche Zubringerbusse zu den Geschäften einsetzen. Das könne nicht überall der Supermarkt finanzieren.

Der Bus hält auch vor der Haustür

Die erste Donnerstags-Tour ist aber noch nicht am Ziel. In Wippenbach hält Hans Goldstein direkt vor dem Haus von Frau Becker. Die alte Dame steigt mühsam mit ihrer Krücke über die Schwelle. Sie begrüßt die Mitfahrerinnen und sagt: „Wir haben ja alle kaputte Knochen.“ Frau Becker will gar nicht in den Supermarkt von Roger Olbrich. Auf dem Ortenberger Marktplatz steigt sie aus. „Sie müssen nicht auf mich warten“, sagt sie zu Hans Goldstein. „Eine Freundin holt mich später ab.“ Kurz darauf hilft Goldstein den drei anderen Fahrgästen vor dem Supermarkt beim Aussteigen. Es ist halb zehn. Vor der nächsten Rundtour über Eckartsborn, Schwickartshausen und Fauerbach bleiben ein paar Minuten für einen Kaffee mit dem Chef. Roger Olbrich nimmt sich die Zeit, obwohl er sie eigentlich nicht hat. Auch in seinem Edeka-Markt herrscht die Corona-Konjunktur. Verunsicherte Kunden machen seit Tagen Hamsterkäufe. Die insgesamt 50 Angestellten schaffen es kaum, die Regale mit Toilettenpapier, Mehl und Nudeln nachzufüllen. Deshalb führte Roger Olbrich Kontingente ein: Pro Einkäufer gibt es bei gefragten Produkten maximal zwei Packungen. Und nicht mehr als eine Stiege mit H-Milch.

Bevor der Reporter geht, drückt Olbrich ihm an den Kassen den Fahrplan für den Service-Bus in die Hand. Und berichtet über seine Corona-Schutzvorkehrungen für das Personal. Alle tragen jetzt schwarze Gummihandschuhe. In Kürze sollen auch Spuckschutz-Scheiben an den Kassentresen installiert werden. Da schimpft plötzlich eine alte Dame auf auf den Marktleiter und den Reporter ein: „Sie stehen zu eng zusammen!“ ruft sie laut. „Halten Sie mehr Abstand!“ Die Stimmung ist ganz anders als sonst.

Hans Goldstein lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Viele Leute hätten Angst vor der Epidemie, sagt der 68-Jährige. Er sehe das gelassener. Goldstein hat in seinen 45 Dienstjahren als Rettungsassistent und Leiter der Rettungswache in Nidda schon viele dramatische Situationen erlebt. In seiner Freizeit flog er Rettungseinsätze mit dem in Reichelsheim stationierten Rot-Kreuz-Helikopter. Dagegen ist sein aktueller Minijob als Busfahrer für alte Damen das reinste Kaffeekränzchen. Buchstäblich. Immer wieder werde er von ihnen auch zum Kaffee und Kuchen eingeladen.

Der Service-Bus nach Ortenberg

Zweimal pro Woche fährt der Service-Bus vormittags durch 14 kleine Orte rund um Ortenberg in die Kernstadt. Es gibt feste Haltepunkte. Endstation ist der Edeka-Markt von Roger Olbrich an den St. Wendelsgärten. Wer gebührenfrei mitfahren will, kann sich auch unter der Mobilnummer 0151 / 50331515 bei Hans Goldstein melden. Zurück fährt der Bus jeweils 90 Minuten nach der Ankunft. Dienstags verläuft die erste Tour über Bleichenbach, Stockheim, Effolderbach und Selters nach Ortenberg, die zweite über Usenborn, Gelnhaar und Bergheim. Donnerstags werden zuerst Fahrgäste aus Bellmuth, Bobenhausen und Wippenbach abgeholt. Die zweite Runde verläuft über alle drei Ortsteile von Eckartsborn, über Schwickartshausen, Fauerbach und Lißberg.

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