Einstimmung auf den Krieg
Von Michael Schlag
Joseph Goebbels hielt am Freitag, 18. Februar 1943 von 17 bis 19 Uhr eine Rede im Berliner Sportpalast. Ein Satz darin gehört zum kollektiven Gedächtnis in Deutschland: „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ schreit Goebbels und erhält zur Antwort ein tosendes „Ja“ von vielen tausend Zuhörern. Aber was waren die Hintergründe für diese Rede und die ganze Veranstaltung? Der Historiker Peter Longerich ordnet die Rede jetzt ein in das Jahr 1943, das heißt vor allem in das Kriegsgeschehen.“Die Sportpalastrede 1943 – Goebbels und der ‚totale Krieg’“ heißt sein Buch.Der Reichsminister tobt
Zwei Stunden lang sprach und tobte der Reichsminister für Propaganda, entwickelte dabei so irrsinnige Lügen, dass man ihn eigentlich sofort in die forensische Psychiatrie hätte stecken müssen. Natürlich geschah das nicht, sondern Goebbels stärkte mit seiner Rede seine Position innerhalb des NS-Regimes, sammelte Punkte beim Führer und stimmte das Land darauf ein, dass die Deutschen jetzt nur noch einen Daseinszweck haben: den Krieg.
Nach der Lektüre von Peter Longerichs Buch versteht man viel besser als man es bisher wusste, welche Bedeutung die Goebbels-Rede wirklich hatte. Die Deutschen sollten nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad vollends auf Krieg eingestimmt werden, dabei ging es auch um „die Optik des Krieges“, so nannte das Goebbels. Es dürfe doch nicht sein, dass in Berlin weiter Luxusgeschäfte geöffnet hatten und Menschen in vornehmen Restaurants aßen, während in Stalingrad zehntausende Männer starben und in Gefangenschaft gingen.
„Feinschmecker wollen wir wieder nach dem Kriege werden“, das hat Goebbels tatsächlich so gesagt. (Göring übrigens hatte sich noch gegen die Schließung von Luxusrestaurants und exklusiven Geschäften in Berlin gewandt.) Bars und Nachtlokale waren zu schließen, aufwändige Frisiersalons sollten den Betrieb einstellen, denn die Frauen und Mädchen „werden unseren einmal siegreich heimkehrenden Soldaten auch ohne friedensmäßige Aufmachung gefallen,“ so Goebbels. Die Optik des Krieges in der Gesellschaft sollte sein: spartanische Lebensführung und Verzicht auf alles, was nicht kriegswichtig ist. Und das Alles sollte stattfinden im „Geist der nationalsozialistischen Gerechtigkeit“. Die ganze Rede hat einen plebiszitären Charakter, Goebbels gibt sich anti-elitär, ganz auf Seiten der Arbeiter hetzt er nach außen, aber auch nach innen: „Die Staatsführung darf nicht dulden, dass der weitaus größte Teil des Volkes die ganze Bürde des Krieges trägt und ein kleiner passiver Teil sich an den Lasten und an der Verantwortung des Krieges vorbeizudrücken versucht.“ Reiche Herrschaften sollten sich besser selbst um ihren Haushalt kümmern und ihre Dienstmädchen für die Rüstungswirtschaft freigeben. Für antibürgerliche Parolen in der Art gab es im Sportpalast stets am meisten Beifall. Indes sollten Kinos, Kneipen, Sportplätze zum Volksvergnügen geöffnet bleiben.
Deportation der Juden wird vorbereitet
Und die Rede diente auch der Vorbereitung auf die Deportation der Berliner Juden. Gleich in der folgenden Woche wurden 8000 in der Rüstungsindustrie beschäftigte Juden durch die SS-Leibstandarte meist von ihren Arbeitsplätzen weg verhaftet. Der Fall von Stalingrad lag erst 12 Tage zurück und Goebbels hatte sich in seinem Tagebuch schon vorgenommen, die Totalisierungsmaßnahmen müssten „weiter gehetzt und angetrieben werden“. Er plante deshalb eine Massenkundgebung mit alten Parteigenossen und viel Prominenz, die „an Radikalismus alles bisher Dagewesene übertrumpft.“
Das Buch fasst das ganze Geschehen gut lesbar auf 180 Seiten zusammen, in drei Teilen übersichtlich gegliedert plus ausführlichem Register. Zunächst die Vorgeschichte, der Stand des Krieges, die Konkurrenzen innerhalb der NS-Elite, immer mit der Hauptfrage: Wer hat das Ohr und die Gunst des Führers? Und wie sollte man jetzt die neue Lage vermitteln vom siegreichen Blitzkrieg zu den Niederlagen in Stalingrad und Nordafrika. Die Volte hieß dann: „totaler Krieg = kurzer Krieg“. Im zweiten Teil – fast unerträglich zu lesen – die gesamte Goebbels-Rede, und zwar nicht die damals veröffentlichte Zeitungsausgabe, sondern das Transkript der tatsächlich gehaltenen Rede mit allen Reaktionen und Zwischenrufen des riesigen Auditoriums. Schritt für Schritt vom Historiker fachlich kommentiert. Es gibt darin tatsächlich viel mehr zu verstehen als nur das „wollt Ihr den totalen Krieg?“
Und schließlich, Teil drei des Buches: Was passierte in der Zeit danach, wie war die Wirkung der Rede im In- und Ausland? Die deutsche Presse hatte schon vorher Weisung bekommen aus dem Propagandaministerium, sie solle in ihren Berichten “dem kämpferischen Willen des ganzen deutschen Volkes Ausdruck geben.“ Im Ausland dagegen nahm man wenig Notiz von der Rede, auch wenn Goebbels das im Tagebuch anders schildert. Ganz sicher hatte sie aber ihren Anteil daran, dass der Krieg noch weitere zwei Jahre und zwei Monate dauerte.
Abgrundtief böser Schwachsinn
Alles schon 80 Jahre her und nur ein historischer Rückblick? Wenn es doch so wäre. Tatsächlich ist das Buch geradezu tagesaktuell. Seite für Seite wird einem beim Lesen klar: Dieser mörderische Irrsinn war nicht eine einmalige und niemals wiederkehrende Sache, wie wir es als nunmehr demokratische Deutsche so gerne hätten. Da sehen wir den Propagandaminister mit erhobenem rechtem Arm auf dem Buchtitel wie er unfassbaren Schwachsinn erzählt, der noch Millionen Menschen das Leben kosten wird. Und selbst wenn es damals im Sportpalast natürlich kein repräsentativer Querschnitt der deutschen Bevölkerung war (wie Goebbels in der Rede behauptet), sondern handverlesene Parteigenossen und Naziprominenz – wie konnte irgendjemand nur ein Wort davon glauben? Wie konnte es denn sein, dass sich jemand mit solchem abgrundtief bösen Schwachsinn überhaupt Gehör verschafft? Von der bolschewistisch-jüdischen Verschwörung, die seltsamerweise gleichzeitig in Großbritannien und der Sowjetunion stattfindet, während allein Deutschland die Vernichtung des Abendlandes durch die anstürmenden Horden aus der asiatischen Steppe noch verhindern kann? Und dann liest man „Berlin damals“ – und denkt schon beim Lesen „Moskau heute“. Da sehen wir Putin am Vorabend des Überfalls auf die Ukraine, wie er ebenso abgrundtief bösen Unfug erzählt. Wie kann man denn heute in Russland nur ein Wort davon glauben, dass die Ukraine zerstört werden muss, ansonsten stehe die Existenz von Russland auf dem Spiel?
Ein Funken Hoffnung bleibt, damals wie heute glauben es nicht alle. Peter Longerich zitiert Notizen aus deutschen Tagebüchern, darunter der evangelische Wehrmachtspfarrer Siegfried Hotzel. Ihm kam es bei der Sportpalastrede so vor, als hätte sich „ein Haufen von Idioten und entsprungenen Tollhäuslern dort zusammengerottet“.
Blick ins Buch: bic-media.com
Peter Longerich: Die Sportpalastrede 1943 – Goebbels und der „totale Krieg“, Siedler Verlag, 2023, ISBN 978-3-8275-0171-4, 206 Seiten, 24 Euro.
Titelbild: Die Großkundgebung im Berliner Sportpalst 1943, während der Joseph Goebbels seine wahnwitzige Rede hielt. (Bildquelle: Wikipedia/Bundesarchiv_Bild_183-J05235,_Berlin,_Großkundgebung_im_Sportpalast)