Beifall und ein Widerspruch in Lollar
von Jörg-Peter Schmidt
Denis Scheck versteht es in seinen Medienbeiträgen, die Neugierde auf Literatur auf derart spannende Weise zu wecken, dass man unweigerlich zum nächst besten guten Buch greifen, sich darin verlieren und das Knistern und Rascheln der Seiten beim Umblättern genießen möchte. So erging es sicherlich auch vielen der etwa 120 Gäste, die ihn in der Clemens-Brentano-Europaschule Lollar (CBES, Kreis Gießen) bei der Vorstellung seines Buches „Schecks Kanon“ erlebtenWichtige Werke der Weltliteratur
Darin hat der TV-Journalist die „100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“ zusammengestellt: Die Palette reicht von „Michael Kohlhaas“ (Heinrich von Kleist) über Voltaires „Philosophisches Wörterbuch“ bis zu den „Peanuts“ von Charles M. Schulz. Aber einige bekannte Schriftsteller wie Heinrich Böll fehlen in der Aufzählung, worauf CBES-Schulleiter Andrej Keller, der zusammen mit Thomas Zwerina die Zuhörer begrüßte, zu sprechen kam. Er hätte im „Kanon“ gern George Orwells „1984“ gesehen.
Denis Scheck kann es also nicht allen recht machen. Allerdings hat der Schwabe, schelmisch wie er nun halt mal ist, Friedrich Schiller zwar kein eigenes Kapitel gewidmet, ihn aber durch die Hintertür doch untergebracht. Auf den Seiten 83 bis 85 begeistert er sich für eine von Carl Barks 1947 verfasste Story, in der Donald Duck und Gustav Gans ihre Kräfte bei einer Wette messen. In diesem Kapitel Schecks wird die legendäre Übersetzerin zahlreicher Mickymaus-Hefte, die 2005 verstorbene Dr. Erika Fuchs, gewürdigt, die den Entenhausenern so manchen Klassiker in die Sprechblasen gesetzt hatte. So zitieren in der Geschichte „Weihnachtswäsche“ Tick, Trick und Track aus dem Rütli-Schwur („Wilhelm Tell“): „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns waschen und Gefahr.“ Schiller lässt grüßen…
Menschliche Angst leidenschaftlich beschrieben
Dies ist nicht die einzige Überraschung des Buches, wie das Publikum in Lollar feststellen konnte. Das wurde spätestens deutlich, als Scheck aus dem Kapitel rezitierte, in dem er sich mit Ernest Hemingway beschäftigt. Man hätte erwartet, dass sich der Kritiker einen der bekanntesten Romane des Nobelpreisträgers ausgesucht hat wie „Fiesta“, „Der alte Mann und das Meer“ oder „Wem die Stunde schlägt“. Stattdessen wählte er die Kurzgeschichte „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“. Als der Journalist dann aus dem Kapitel über Hemingway vorlas, wurde es still im Saal, denn es erfolgte ein beeindruckend leidenschaftliche Beschreibung, was menschliche Angst im Angesicht eines wilden Raubtiers vermag. Hemingway versetzt sich in die Lage des 35-jährigen Francis Macomber, der auf einer Safari einen Löwen verfehlt und Reißaus genommen hat – „wie ein Hase“. Er hatte den Löwen brüllen gehört und seine Furcht auch dann noch gespürt, als ein Berufsjäger die gewaltige Raubkatze erschossen hat.
Ist Francis Macomber ein Verlierer? Für Scheck sicherlich nicht. Denn bei einem Besuch einer gesicherten Wildtiere-Farm in der Nähe von Johannesburg (Südafrika) konnte er sich persönlich von dem gewaltigen Stimmorgan des Königs der Tiere überzeugen. Scheck erinnert sich mit Grausen: „Zu sagen, das Gebrüll des Löwen sei laut gewesen, trifft es nicht ganz. Es war ein Gebrüll, das die Erde unter den Füßen beben ließ und von dort direkt in den Magen fuhr. Ein Gebrüll, in dem sich die Gitterstäbe auflösten, das Tag und Nacht, Himmel und Erde auslöschte und nichts übrig ließ außer dem Löwen und die Angst vor ihm.“ Soweit das prägende Erlebnis des gebürtigen Stuttgarters, der im übrigen berichtete, dass Francis Macomber unverhofft seine Angst überwindet und frei wird.
Scheck plaudert über die, die er nicht mag
Der Verfasser des „Kanons“ las im Laufe des Abends noch aus seinen Betrachtungen über die Tagebücher von Franz Kafka sowie über „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen und stellte – wie am Schluss seines Buches – die Griechin Hypatia von Alexandria vor, die etwa von 355 bis 416 n. Chr lebte. Ihr „Fehler“ war, dass sie in hervorragender Weise eine selbstbewusste Mathematikerin, Astronomin und Philosophin in jener Zeit war, als solche Tätigkeiten „Männersache“ waren. Kein Wunder, dass Neider und Fanatiker sie ermordeten.
Dennis Scheck plauderte in Lollar auch über Autorinnen und Autoren, deren Veröffentlichungen er nicht mag: wie Susanne Fröhlich oder Sebastian Fitzek. Und über Paulo Coelho, dessen Bücher er grauenhaft findet. Zufällig saß im Publikum der Autor und Singer-Songwriter Sven Görtz, der Hörbuchsprecher der Romane von Paulo Coelho ist, über den Görtz sagt: „Dieser Schriftsteller tut genau das, was jeder Künstler tun sollte: Er folgt seiner eigenen Vision, er zieht sein Ding durch, unabhängig von Trends und Moden.“ Dennoch konnte er Scheck nicht überzeugen. Stattdessen hatte er Lob für zwei Schriftsteller mit Wurzeln aus dem oberhessischen Raum Staufenberg/Lollar parat, auch wenn sie in seinem „Kanon“ keinen Platz gefunden haben. Er würdigte die schriftstellerischen Leistungen des 2013 verstorbenen Peter Kurzeck, der aus Tachau (Sudetenland) stammte und lange Zeit in Staufenberg lebte, sowie von Thomas Hettche, der aus Treis an der Lumda kommt. Für den oft mit schwäbischem Humor gewürzten Vortrag gab es langen Beifall und CBES-Leiter Andrej Keller sowie Birgitta Oschinski und Thomas Zwerina vom Team der Mediothek der CBES dankten dem Publizisten und Herausgeber mit einem Präsent.
Kleiner Nachtrag des Berichterstatters, dessen Frau fast alle Bücher von Sebastian Fitzek gelesen hat: Liebe Leserinnen und Leser des „Landboten“, nie werden wir erfahren, ob im Publikum in Lollar nicht doch eingefleischte Fans von Sebastian Fitzek & Co. saßen. Wenn doch, dann hat sich niemand gewagt, der Fitzek-Schelte von Denis Scheck zu widersprechen, um dann aber schnell zu Hause im Schlafanzug im Licht der Lampe im Bett ganz gebannt den neuen Fitzek aufzuschlagen…