Lesung wird zum Fest im Ex-Aussiedlerheim
An dieser Lesung war alles ungewöhnlich: der Ort, die Teilnehmer, die Form. Auswanderer aus Russland lasen im einstigen Aussiedlerwohnheim in der Luisenstraße 15 in Bad Nauheim, das heute ein mondänes Wohnhaus ist. Mit dabei: Natalie Pawlik, Bundestagskandidatin der Wetterauer SPD (Foto). Die Lesung geriet zum Fest.
Dutzende auf engstem Raum
„Wenn ich heute über die Luisenstraße in Bad Nauheim schlendere, stehen dort viele luxuriöse Wohnhäuser mit geschmückten und bepflanzten Balkonen, Arztpraxen und nette Vorgärten der Familienhäuser. Kaum zu glauben, dass in dieser Straße einmal auf engstem Raum Dutzende Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion gelebt haben“, schreibt Natalie Pawlik in ihrem Beitrag zu dem Buch „Fest zu – pack aus!“. Genau dieses Haus, in dem die Aussiedler aus der Ex-Sowjetunion einst so eng wohnten, war am 30. Juni 2017 Schauplatz der Lesung aus dem Buch, das die Kulturgruppe „Die Verdichter“ herausgegeben hat. Petra Ihm-Fahle von der Kulturgruppe hatte in dem Haus nachgefragt, ob eine Lesung möglich ist, und hatte bei der Familie Jellema offene Ohren gefunden. Die stellte nicht nur ihr Wohnzimmer dafür zur Verfügung, sondern Hausherr Tjerd Jellema musizierte an diesem Abend fleißig mit.
Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn
Star des Abends war Natalie Pawlik. Nicht nur, weil sie ihre Geschichte am Ort des Geschehens las. Die Migrantin aus Russland hat in ihrer neuen Heimat politische Karriere gemacht. Die 24-Jährige ist die Bundestagskandidatin der Wetterauer SPD und steht auf der Landesliste der hessischen SPD auf dem aussichtsreichen Platz 14. Unter Russlanddeutschen sei sehr viel über Geschichte, Gesellschaft und vor allem Politik gesprochen worden, schreibt sie in „Fest zu – pack aus!“ und fährt fort: „Vielleicht war dies auch einer der Gründe für meine frühe Politisierung, zumindest habe ich mir Ungerechtigkeiten schon immer sehr zu Herzen genommen. So habe ich mich zum Beispiel viel mit dem Umgang von Menschen mit Tieren und unserer Umwelt beschäftigt, an Spendenaktionen für Kinder in Rumänien oder Afrika teilgenommen oder mich oft auf die Seite von ‚Schwächeren‘ gestellt. Woher allerdings mein Selbstbewusstsein kam, mit 15 Jahren für die Schülervertretung, Kreisschülervertretung und schließlich für die Landesschülervertretung zu kandidieren, kann ich mir bis heute nicht ganz erklären. Wahrscheinlich war der Wille etwas zu bewegen und zu verbessern stärker als die Schüchternheit eines 15jährigen Mädchens, schließlich habe ich viele Ungerechtigkeiten selbst erleben müssen. Gehänselt werden, weil man die Sprache nicht kann oder nicht die tollsten Klamotten, Spielsachen und Handys besitzt und ausgeschlossen zu werden. (…) Der Besuch einer kooperativen Gesamtschule verdeutlichte recht schnell, wie viel Einfluss die familiäre und soziale Herkunft im deutschen Bildungssystem hat und wie manche Kinder von Anfang an keine Chance hatten aufzusteigen, denn es zählte, woher man kommt. Viele meiner russischen Freunde landeten auf der Hauptschule, nicht weil sie kein Mathe oder Chemie konnten, sondern weil sie vor Sprachbarrieren standen.“
Unbesorgt und glücklich
Auch Natalie Volkova erzählt von ihrem Start in Deutschland, erfrischend, weil mit viel Witz. Der war in Düsseldorf. „Als ich vor 25 Jahren nach Deutschland kam, bereitete sich das ganze Land auf Weihnachten vor. Ich war begeistert von den leuchtenden Schaufenstern und geschmückten Straßen, genoss die unbeschreibliche Atmosphäre der Weihnachtsmärkte mit ihren wunderbaren Düften, beobachtete Menschen, die hin und her liefen, verschiedene unnötige süße, schöne Kleinigkeiten kauften, Glühwein tranken, lachten und unbesorgt und glücklich aussahen. So etwas habe ich in Russland nie erlebt.“ Die Volkovs landeten in Bad Nauheim, weil sich ihr Sohn mit seiner Familie in Friedberg niedergelassen hatte und seine Eltern in der Nähe haben wollte. „Die Kinder wollten, dass wir näher zu ihnen ziehen: wir zweifelten – dreizehn Jahre lebten wir in Düsseldorf, hatten dort viele Freunde und wir waren nicht mehr so jung, um leicht auf unser gewohntes Leben zu verzichten. Aber Bad Nauheim überzeugte uns sofort. Die Stadt sah irgendwie märchenhaft aus: wunderschön, gemütlich, als ob alle Häuser in einem großen Park stehen“, schreibt Natalia Volkova.
Ihr Mann Valeri ist ein begnadeter Sänger und Gitarrist. Er untermalte ihren Vortrag und sorgte mit Hausherr Tjerd Jellema für Stimmung. „Den Höhepunkt des Abends bildete das gemeinsame Singen“, berichtet Natalie Pawlik von den Festen im Aussiedlerwohnheim. Und so war es auch bei der Lesung, die mit gemeinsamen Gesang endete.
Die Kulturgruppe „Die Verdichter“ ist ein Multi-Kulti-Projekt in der Kurstadt. Sie ist 2013 beim Puzzle Picnic Family Projekt der Bürgerstiftung „Ein Herz für Bad Nauheim“ entstanden. Menschen aus verschiedenen Nationen und unterschiedlichen Alters taten sich zusammen. „Fest zu – pack aus!“ ist das zweite Buch der Kulturgruppe. In zehn Beiträgen erzählen die Autoren von sich und ihren Festen.
„Fest zu – pack aus! – Das Multi-Kulti-Family-Projekt aus Bad Nauheim“, Kulturgruppe „Die Verdichter, Paperback, 260 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 14,99 Euro, ISBN 978-3-00-056483-3. Das Buch gibt es hier