Auswanderung

Büdinger hoffen auf ein besseres Leben

Von Corinna WillführWLB-Russland-5

Im Jahr 1766 brachen rund 3000 Menschen von der Stadt Büdingen auf, um sich an der Wolga eine neue Existenz aufzubauen. „Die Auswanderung von 1766/67 aus der Grafschaft Ysenburg-Büdingen“ hat die aktuelle Publikation von Dr. Klaus-Peter Decker im Fokus. Den pensionierten Gymnasiallehrer Ernst Müller-Marschhausen aus Schlüchtern beschäftigt auch das Schicksal ihrer Nachfahren.

Tausende Hessen folgen dem Ruf der Zarin

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Ernst Müller-Marschhausen erforscht seit Jahren die Geschichte der Colonisten aus dem Bergwinkel. (Fotos: Willführ)

Ernst Müller-Marschhausen nennt es „das Russlandfieber“, das die Menschen vor 250 Jahren veranlasste, ihre Heimat zu verlassen. Ihre Heimat: der Bergwinkel, eine Region im heutigen Main-Kinzig-Kreis (Hessen) zwischen den Städten Steinau, Schlüchtern, Bad Soden-Salmünster und der Gemeinde Sinntal. Eine Mitte des 18. Jahrhunderts vom Siebenjährigen Krieg (1756-1763) ausgelaugte Landschaft, durch die nicht einmal „der französische Oberbefehlshaber seine Truppe ziehen lassen wollte, war doch der Hunger dort so groß, dass die Menschen Eichelbrod essen mussten.“ So sahen denn der Peter Becker aus Salmünster oder der Kolseibt Johann aus Marjoß für sich und ihre Nachfahren nur eine Chance: Irgendwo im „moscovitiigen Land Astracan“ als Kolonisten zu siedeln, um dort ein besseres Auskommen zu finden.

Das „Einladungsmanifest“ der Zarin

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Einer der größten Sammelplätze im Auswanderungsjahr 1766 war die Stadt Büdingen.

Die Menschen aus dem Bergwinkel: Sie waren nicht die einzigen, die dem Aufruf von Katharina II., geboren 1729 in Stettin als Prinzessin Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst, folgten. Ihre Anwerber, offizielle russische Kommissionäre und „Privatunternehmer“ im Regierungsauftrag der Zarin, priesen den Bewohnern, Protestanten und Katholiken gleichermaßen, nicht aber Juden, ein besseres Leben an. Allerdings mit Einschränkungen. So sah das „Einladungsmanifest“ Katharina II. aus dem Jahr 1763, mit dem die Regentin den Süden ihres großen Reiches besiedeln und die Landwirtschaft modernisieren wollte vor: Nur Familien und junge Paare sollten als Kolonisten angenommen werden. Nur sie erhielten ein Tagegeld während der Reise, ein Grundstück von 30 Hektar, Steuerbefreiung und Glaubensfreiheit in Aussicht gestellt.
Dass gerade Büdingen zu einem der zentralen Sammelplätze für die Auswanderer wurde, erklärt der pensionierte Gymnasiallehrer Ernst Müller-Marschhausen damit, dass „die Werber der Zarin aus der Freien Reichsstadt Frankfurt vertrieben worden waren. In Büdingen indes erhoffte sich Fürst Casimir I., ein hoch verschuldeter Regent, durch die Abgaben, die Auswanderungswillige zu entrichten hatten, seine leeren Kassen zu füllen.

375 Copulationen in fünf Monaten
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Blick in die Büdinger Marienkirche, in der vor 250 Jahren in wenigen Monaten 375 Paare getraut wurden.

Und die Menschen sie kamen. Aus dem Bergwinkel, der Wetterau bis hin zur Pfalz folgten sie dem Anwerbeangebot der Zarin – und bescherten dem Pfarrer der zuständigen Pfarrei der Stadtkirche (Marienkirche) in Büdingen ein arbeitsreiches Jahr. So copulierte, meint traute, dieser allein zwischen dem 24. Februar bis 8. Juli 1766 375 Paare. „Knapp die Hälfte, Männer und Frauen, die aus einem Dorf oder einem der nächsten Umgebung kamen, haben sich gekannt, die anderen haben sich in Büdingen wohl zum ersten Mal gesehen“, sagt der 77-Jährige. Eine Schlussfolgerung, die er nach seinem Studium des Heiratsregisters in den evangelischen Kirchenbüchern der Stadt getroffen hat. Eine Liste mit Namen der Kolonisten, die in diesem Jahr in Büdingen geheiratet haben, hat Klaus-Peter Decker in seinem Buch „Büdingen als Sammelplatz der Auswanderung an die Wolga 1766“ veröffentlicht.

Einzigartige Möglichkeit für die Ahnenforschung
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Dokument eines Bittgesuchs zur Auswanderung aus dem Marburger Staatsarchiv.

Das Büdinger Heiratsregister bietet für Müller-Marschhausen, „ein einzigartige Möglichkeit zur Recherche.“ Nicht nur für Historiker, sondern auch für die Nachkommen der Siedler, die nach ihren Vorfahren, ihren Wurzeln und damit nach ihrer eigenen Geschichte suchen. Einer Geschichte, von der es in den Familien selbst kaum Zeugnisse gibt. Mussten doch die in den 105 Dörfern an der Wolga siedelnden Deutschen mit der von Stalin angeordneten Zwangs-Deportation im Jahr 1941 „hinter den Ural“, nach Sibirien oder Zentralasien, alles aufgeben. „Für manche russlanddeutsche Familie beginnt mit den Vorgängen von 1766 in Büdingen die eigene Familiengeschichte“, heißt es denn auch in der Ankündigung zu dem Buch von Klaus-Peter Decker, in der Reihe der Publikationen der Geschichtswerkstatt Büdingen. Decker, Jahrgang 1939, war von 1979 bis 2002 Leiter der Fürstlichen Archive in Büdingen und Birstein.

Über Land und See nach Oranienbaum

In großen Trecks von 500 bis 600 Menschen ging die Reise über Land bis nach Lübeck. Eine Reise, die Tage, aber auch zwei bis drei Wochen dauern konnte. Denn nicht jeder Landesherr ließ die Colonisten durch sein Gebiet fahren. Befürchtete mancher von doch eine „Reichsentvölkerung“ und damit den Verlust der eigenen Macht. Denn, so Müller-Marschhausen: „viele Menschen bedeuteten mehr Macht“. Von Lübeck aus dann die Fahrt per Schiff über die Ostsee nach Oranienbaum in der Nähe des damaligen St. Petersburg, solange es die Temperaturen zuließen. Die See nicht zugefroren war. Ihr weiterer Weg führte die Auswanderer, oft erst im Frühjahr 1767, in eines von 105 Dörfern um Saratow an der Wolga, in ein Siedlungsgebiet mit einer Fläche von der Größe Belgiens. In Dörfer, in denen sie ihre Religion frei ausüben durften, nicht aber missionieren. In denen sie eigene Schulen, eine eigene Verwaltung hatten, vom Militärdienst freigestellt waren – und Deutsch als Amtssprache behielten.

Die Sprache als Helferin für die Herkunftsbestimmung

Die Sprache – sie war indes mitnichten, was man heute Hochdeutsch nennt. Vielmehr redeten die Menschen aus dem Hessischen, der Pfalz, Sachsen und anderen Regionen – insgesamt wird die Zahl der Menschen, die dem Edikt von Katharina II. folgten, mit rund 30.000 angegeben – Mundart. Und verwendeten damit typische Begriffe, die Dialektforscher einzelnen Herkunftsgebieten zuordnen können. Wie der „Babbe“ für Vater ins Osthessische, der Hund, der „gauzt“ anstelle von „bellt“.
„Es gibt noch eine andere Eigentümlichkeit, und zwar in der Lautung mancher Wörter, die ein weiteres deutliches Indiz für Übereinstimmung des sogenannten Russlandhessischen mit unserer osthessischen Mundart ist“, erklärt Müller-Marschhausen. „Wenn die Konsonanten t und d zwischen Vokalen stehen, werden sie zu r.“ Eine Hilfe, wenn auch nur eine kleine für die Menschen, die sich auf die Spuren ihrer Vorfahren begeben. Seit den 1990er Jahren sind circa 2,5 Millionen deutschstämmige Bürger aus der ehemaligen UdSSR mit ihren Familien nach Deutschland eingewandert. Nach Hessen 265.000 Menschen. Im Bergwinkel, so Müller-Marschhausen, haben „wohl 450 Menschen eine neue Heimat gefunden.“

Infos:
Über Geschichte und Gegenwart der „Deutschen in Russland“ informiert derzeit eine Wander-Ausstellung ihrer Landsmannschaft, die unter anderem in Soest, Lichtenstein, Recklinghausen und Singen gezeigt wird. Sie thematisiert auch die aktuellen Vorurteile und Urteile über die „Russlanddeutschen“.

Die 195 Seiten umfassende Publikation mit einer Namensliste von 650 Emigranten und zahlreichen Dokumenten von Dr. Klaus-Peter Decker hat die ISBN-Nummer 978-3-939454-83-0 und kann zum Preis von 16 Euro über den Buchhandel bestellt werden.

Ein Gedanke zu „Auswanderung“

  1. Wenn ich im Fernsehen die flüchtenden Frauen, die verängstigten Kinder und die alten Männer mit ihren Bündeln im kalten Nebel der Landstraßen sehe, denke ich an meine Tante Elina. Sie war die Cousine meines verstorbenen Vaters. Dessen Familie war um 1790 aus der Gegend um Bamberg nach Südungarn ausgewandert. Mein Großvater war Zimmermann und noch heute zeugen manche Dächer in der Nähe von Pécs und Komlo von seiner Arbeit. Tante Elina kam aus dem gleichen ungarischen Dorf. Vor einigen Jahren hat sie mir ihre Geschichte erzählt: Am 28. Dezember 1944 wurde sie mit 119 anderen jungen Frauen und Männern aus dem Dorf Szalatnak (Salack) in Südungarn von der Roten Armee zur Zwangsarbeit nach Tschetschenien, nach Grosny verschleppt. Tausende Ungarn-, Rumänien-, Jugoslawien-Deutsche gingen mit ihnen den gleichen Weg in die malenki robot – Zwangsarbeit im Kaukasus. Sie waren junge Mädchen, Mütter und Frauen, einige männliche Jugendliche. Dass ihre Deportation die Folge von deutschem Völkermord und Eroberungskrieg war, davon verstanden die meisten von ihnen damals wenig. Zuerst mussten sie bis zum Bahnhof nach Pécs laufen. Sie wurden wie Vieh abtransportiert. „Einen Monat sind wir gefahren, bis wir angekommen sind. Wir haben gedacht, es geht bis ans Ende (der Welt). Das war es auch. Abends um zehn sind wir in Grosny angekommen. Hier wurden wir abgezählt und in Gruppen verteilt, die in verschiedene Lager gekommen sind. Wir waren beim Ölrohrziehen eingesetzt. Wir mußten graben und die Rohre mit Stricken hineinziehen, die dann zusammengeschweißt wurden. Ja, Arbeit hat es für uns gegeben, nur kein Essen. Wir haben täglich ein Stücklein Brot bekommen, das war wie Seife, und Krautsuppe, aber nach dem Essen waren wir hungriger als davor. Es war mehr als einmal, dass wir nichts hatten. Wir waren ausgehungert, abgemagert und total hilflos. In Grosny sind der Kerner Joschka, Fledrich Franz, Tanner Laurenz, Prein Peter, Pfisztner András, Felvári Franz und die Winger Eva gestorben. Sie sind zu dritt, zu fünft, wie es halt gekommen ist, begraben worden. Erst 1948 ist ihnen ein Holzkreuz hingestellt worden. Ich war 18 Jahre alt, habe vielleicht 30 Kilo gewogen und war voller Läuse. Das allerschlimmste war, dass ich nur daran denken konnte: von hier kommst du nicht mehr heim. Wir hatten ja keine Namen, wir hatten ja nur Nummern, wir waren keine Menschen. Vielleicht war es unser Glück, dass wir zuerst in die Kaukasus-Gegend gekommen sind. Dort war es nicht so kalt, und auf den Feldern ist vieles gewachsen. Man hat immer wieder etwas finden und manchmal auch eine Kartoffel stehlen können. Wenn es dort nicht einige gute Menschen gegeben hätte, wäre von uns über die Hälfte dort geblieben.“ Tante Elina überlebte die malenki robot, die russische Zwangsarbeit. Im November 1949 ging es wieder zurück in die ungarische Heimat.Von dort wurde sie sogleich ausgesiedelt und kam schließlich in ein kleines Dorf (01877 Demitz-Thumitz) in der Ober-Lausitz, wo sie bis vor einigen Jahren noch lebte. Ob auf dem Verschleppten-Friedhof bei Grosny, auf dem die toten Salacker liegen, die Holzkreuze noch stehen?
    Peter Hartung, Nidda

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