Artur Klinau

Schlimmes Erwachen in Minsk

von Jörg-Peter Schmidt

Etwa ein Dreiviertel der Bevölkerung in Belarus ist gegen den Krieg Putins, der sich gegen die Ukraine richtet. Dies berichtete der Schriftsteller Artur Klinau, der auf Einladung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) zwei seiner Bücher vorstellte, die sich mit der früheren Geschichte sowie der jüngsten Vergangenheit in Minsk beschäftigen.

Autor lebt zurzeit im Exil in Gießen

In der mit etwa 80 Gästen gut besuchten eindrucksvollen Veranstaltung im Netanya-Saal im Gießener Alten Schloss drehten sich die Lesung und das anschließende  Gespräch also um das Geschehen in der Hauptstadt von Belarus bzw. Weißrussland,  in der der Autor und Künstler Klinau 1965 geboren wurde. Er lebt zurzeit in Gießen im Exil.  Die in der „edition suhrkamp“ erschienenen Bände, aus denen rezitiert wurde, heißen „Minsk – Sonnenstadt der Träume“ und  „Acht Tage Revolution – ein  dokumentarisches Journal“ aus Minks“ (hier geht es um Aufstand und Willkür im Jahr 2020 nach der Präsidentenwahl und den angeblichen „80,2 Prozent“ für Lukaschenko).

Das Podium von links: Gleb Kazakov, Artur Klinau und Prof. Thomas Michael Bohn. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)

Lesung in Zusammenarbeit mehrerer Institutionen

Der Schauspieler Roman Kurtz (Stadttheater Gießen) las aus den Veröffentlichungen;  Gleb Kazakov (Justus-Liebig-Universität Gießen. JLU)  fungierte als  Übersetzer in der Veranstaltung, die das LZG gemeinsam mit dem Gießener Zentrum Östliches Europa, der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde,  dem Kulturamt der Stadt Gießen, der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung sowie der JLU ausrichtete. Für Fragen und Erläuterungen stand zudem noch Thomas Michael Bohn zur Verfügung. Der Schriftsteller, der Professor für Osteuropäische Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen ist, hat unter anderem eine  Dokumentation unter dem Titel „Heldenstadt Minsk  –  Urbanisierung à la Belarus seit 1945“ ( Vandenhoeck & Ruprecht Verlage) verfasst. Moderatorin war LZG-Geschäftsführerin Dr. Anika Binsch.

Erinnerung an Kindheit in der Sowjet-„Sonnnenstadt“

Vorwiegend aus dem 2006 erschienenen „Minsk – Sonnenstadt der Träume“  las Roman Kurtz vor. Artur Klinau hat seine Eindrücke aus der Sicht einer Kindheit, später als Erwachsener geschrieben. Das Zentrum der Hauptstadt (im Buch „Sonnenstadt“ genannt) wird – mit Schwarzweiß-Fotografien versehen – vorgestellt, mit seinen monumentalen stalinistischen Palästen, Plätzen, Paraden der Sowjetzeit.  Man hat das Gefühl, dass der Erzähler sich in seiner Jugendzeit in Minsk nicht unbedingt unwohl gefühlt hat, zumal er sich die Nischen suchte, die Kinder und Jugendliche mögen:  eine fantastisch gemixte Limonade in einem Geschäft, die nur dort so gut ist, oder  die Besuche von Kinos.

Der Schriftsteller beim Signieren seiner Bücher.
Kinos gehörten zu den Lieblingsorten

So heißt es auf Seite 37 beispielsweise über Kinos: „Das nächste lag auf dem Prospekt, beim Platz der Liebe, in einem Park, der zu Ehren des Bezwingers  des Nordpols Tscheljuskinzew-Park hieß …Dort sah man, was im Fernsehen selten gezeigt wurde, die amerikanische Prärie mit Cowboys und Indianern,  Fantomas, wie er über Paris fliegt, alte Schlösser, den Mann mit der Maske und  Angélique, Marquise des Anges. Aus dem Fernsehen erfuhren wir eher, was man über das Land des Glücks wissen musste.“

Als die Ernüchterung einsetzte

Das Land des Glücks? Schon anhand dieser Formulierung merkt  man als Leserin und Leser, dass Klinau die Kindheitserinnerungen  mit einer gewissen Ironie unterlegt hat. Irgendetwas im scheinbar idyllischen, dem Westen doch so überlegenen Sowjetstaat  hat offensichtlich nicht gestimmt…

Später, beipielsweise auf Seite 161, schreibt der Autor über die Ernüchterung aus den sowjetischen Träumen: „In Vilnius begann das Erwachen, ein Erwachen, das die blutige Wahrheit der Realität mit sich brachte“…  Wir stahlen uns heimlich aus der Stadt. Obwohl wir nichts Verbrecherisches taten, sondern nur alte Lieder sangen, galt allein die Tatsache, dass wir uns versammelten und Weißrussisch spachen, als Aufstand gegen das Land des Glücks.“

Schlimme Befürchtungen wurden zur Wirklichkeit
Der Schauspieler Roman Kurtz las aus den Texten des belarussischen Autors.

Das zweite Buch von Artur Klinau, aus dem Roman Kurtz las las („Minsk – Sonnenstadt der Träume“ und  „Acht Tage Revolution – ein  dokumentarisches Journal“ aus Minks“) spielt im August 2020, als sich in Belarus längst Träume in Alpträume verwandelt haben. Dank der Präsidentenwahl mit einem Ausgang von sonderbaren 80,2 Prozent für Amtsinhaber  Lukaschenko. Klinau  berichtet von der verzweifelten Suche nach seiner verhafteten Tochter  Marta. Sie ist mittlerweile im Exil in Sicherheit – im Gegensatz zu den vielen Menschen, die das Regime wegen kritischer Haltung  weggesperrt hat.

Einblicke in die Historie Weißrusslands

Das Publikum im Alten Schloss erfuhr an diesem Abend noch viel über die Historie Weißrusslands, die Kriege, Aufstände  und die Revolutionen, über die Klinau in seinen Büchern berichtet. Auch Prof. Bohn erläuterte die Historie, unter anderem am Beispiel der langen litauisch-polnischen Vergangenheit  des Landes, dessen Bevölkerung Lukaschenko  mit seinem angeblichen Wahlsieg zu täuschen versuchte.

Informationen über Künstlergruppe „Wahrheitskämpfer“

Die Veranstaltung wurde  – passend zum Thema des Abends – abgerundet durch Informationen von Gerhard Konrad Keller über die Künstlergruppe „Wahrheitskämpfer“, die auf die Schicksale verhafteter und ermordeter Journalistinnen und Journalisten  in so vielen Ländern   erinnert. Die Künstlerinnen und Künstler  malen und zeichnen die Opfer. Näheres erfährt man unter wahrheitskaempfer.de

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