Die Gefahr verdeutlicht
von Jörg-Peter Schmidt
„Es handelt sich nicht um Einzelfälle.“ Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa brachte es in wenigen Worten auf den Punkt, um was es bei der Podiumsdiskussion im Georg-Büchner-Saal der Alten Universitätsbibliothek in Gießen ging. Aufgezeigt wurde, wie häufig es international im Laufe der Geschichte rassistische und antisemitische Anschläge gab und wie sehr sich solche Vorfälle wieder häufen.„Antisemitismus heute“ lautete der Titel der von rund 80 Zuhörerinnen und Zuhörern gut besuchten Veranstaltung, zu der das Literarische Zentrum Gießen (LZG) in Kooperation mit der Arbeitsstelle Holocaustliteratur mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung eingeladen hatte.
Renommierte Autorinnen rezierten ihre Texte
Prof. Dr. Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Vorsitzender des LGZ, stellte als Moderator der in deutscher und englischer Sprache gehaltenen Veranstaltung die beiden Autorinnen vor, die aus ihren Texten zum Thema des Abends vorlasen. Jo Glanville (*1963 in London) ist eine der führenden Kulturjournalistinnen Englands. Sie hat unter anderem für The Guardian und die BBC gearbeitet und war von 2012 bis 2017 Direktorin des englischen PEN. Sie ist Gaststipendiatin der Arbeitsstelle Holocaustliteratur.
Die bereits erwähnte Olga Grjasnowa (*1984 in Baku, Aserbaidschan) ist Absolventin des Literaturinstituts Leipzig. Für ihren vielbeachteten Debütroman Der Russe ist einer der Birken liebt (2012) erhielt sie u.a. den Anna-Seghers-Preis.
Essays handeln von Rassismus und Antisemitismus
Beide haben Beiträge zu dem von Jo Glanville herausgegebenem Essayband mit dem Titel „Looking for an Enemy. 8 Essays on Antisemitism, der bisher nur in englischer Sprache erschienen ist, verfasst. Olga Grjasnowa, die als junges Mädchen nach Deutschland übersiedelte und in der Wetterau (in Friedberg) aufwuchs, las aus der deutschen Übersetzung ihres Textes „The ashes are still still warm“ vor. „Die Asche ist noch warm“ hatte ihre Mutter, Tochter einer Shoah-Überlebenden, gewarnt, als die Familie (Eltern mit zwei Kindern) 1996 von Aserbaidschan nach Deutschland zog.
Reihe der Anschläge reißt nicht ab
Und tatsächlich muss die heute in Berlin lebende Schriftstellerin mitverfolgen, wie sich auch in Deutschland Antisemitismus und Rassismus in verbaler Gewalt und terroristischen Anschlägen äußern. Sie zählte beispielsweise auf: die acht Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU, 2000 bis 2006), die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU, 2019), der Terroranschlag auf eine mit 51 Menschen besetzten Synagoge in Halle (2019), die Tötung von zehn Menschen in Hanau (2020).
Unvergesen: Heinz Galinski sollte getötet werden
Soweit nur einige der Gewalttaten der letzten Jahre. Die Autorin erwähnte weitere Vorfälle, darunter die Zündung einer Bombe auf dem S-Bahnhof in Düsseldorf (2000), bei der zehn Einwanderer aus Osteuropa schwer verletzt wurden, einige lebensgefährlich. Unvergessen: 1969 erfolgte im Berlin im vollbesetzen jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße ein Anschlag, der dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, galt. Glücklicherweise explodierte die Bombe nicht. Verursacherin der Tat war eine linksradikale Gruppierung. Und bis heute nicht völlig aufgeklärt ist der rechtsextremistische Anschlag beim Oktoberfest in München im Jahr 1980. Zwölf Menschen fanden den Tod, 221 wurden verletzt.
Veröffentlichung von Sarazzins Buch und die Folgen
Grjasnowa erinnert sich, dass in Deutschland eine negative Stimmungsveränderung gegeben habe, nachdem Thilo Sarazzin 2010 sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlicht hatte. Grjasnowa: „Sarazzin verbreitete rassistische Theorien, etwa Erklärungen dazu, wie ‚intelligent’ einzelne Einwandergruppen seien… Danach war der Bann gebrochen. Die Menschen sprachen laut und vehement aus, was sie schon lange dachten. Niemand brauchte seine Ressentiments zu verstecken.“ Vorher habe man sich eher „verdeckt“, mit vogehaltener Hand, rassistisch geäußert.
Wie antisemitisches Volkslied Hass schürt
Jo Glanville rezitierte aus ihrem Buchbeitrag „Bloody Jews“ und zeigte dabei auf, wie im Laufe der Geschichte bis heute Menschen jüdischen Glaubens Opfer von Aberglauben, von Vorurteilen, von Willkür und Hass wurden und werden. Eingangs ihres Essays schildert sie einen Fall in der Nähe von Norwich aus dem 12. Jahrhundert: Ein zwölfjähriger Junge namens William wurde im Wald – aufgrund seiner Wunden offenbar ermordet – von einem Förster gefunden. Sofort wurde Juden für einen „Ritualmord“ verantwortlich gemacht, ohne dass es einen Beweis gab. Gegen die Juden gab es Repressalien, William wurde zu einem „Märtyrer“ verklärt.
Die Historikerin berichtete zudem über ein über Jahrhunderte weit verbreitetes Lied mit dem Titel „Sir Hugh“. Hintergrund zu dem Folksong können möglicherweise die Vorwürfe sein, wonach im 13. Jahrhundert ein Junge namens Hugh von Lincoln angeblich durch Juden ermordet wurde.
In dem Text des antisemitischen Volkslieds wird Folgendes erzählt: Die Tochter eines Juden lockt einen Jungen in den Garten des Hauses ihrer Familie und ersticht ihn. Jo Glanville kommt zum Schluss, dass solche Lieder Antisemitismus stark fördern können. Im zu dem Buch „Looking for an Enemy“ schreibt sie verbittert ironisch-zynisch, dass Antisemitismus offenbar niemals „aus der Mode“ kommt.
Gemeinsam Rassismus begegnen
Fazit der Veranstaltung war, dass man auf de Welt gemeinsam Anstrengungen unternehmen muss, um dem Rassismus und dem Antisemitismus zu begegnen, ob er von extremen Rechten oder Linken, radikalen kirchlichen oder islamistischen Kreisen begangen wird. Ein sicherlich beschwerlicher, aber nicht unmöglicher Weg.
Titelbild: Im Gespräch während der Podiumsdiskussion: von links: Olga Grjasnowa, Prof. Dr. Sascha Feuchert und Jo Glanville. (Foto: Jörg-Peter Schmidt)