Ehrfurcht vor dem Leben
Von Ursula Wöll
Als schnauzbärtiger ‚Urwalddoktor‘ ging er ins kollektive Gedächtnis ein. Vor 50 Jahren starb Albert Schweitzer (Foto: Bundesarchiv Bild). „Sein“ Spital in Lambarene behandelt angeblich auch heute noch Leute, die nicht zahlen können. Ebenso wichtig und aktuell bleibt seine ethische Maxime „Ehrfurcht vor dem Leben“ sowie sein Protest gegen Wettrüsten und Atomversuche. Zum 50. Todestag Albert Schweitzers werden am 6. September in der Erlöserkirche in Bad Homburg Texte des Doktors und Sozialphilosophen gelesen, unterbrochen von Bach-Musik, die ihn als Organisten erinnert.
Alles Leben gleich wertvoll
Halt, gerade noch rechtzeitig denke ich an Albert Schweitzer und spüle die dicke Spinne nicht in den Abguss. Unvergesslich bleibt mir nämlich, was eine Besucherin über Lambarene schrieb: „Sogar die Ameisen finden es auf des Doktors Schreibtisch schön. Er lässt ihnen bereitwillig eine freie Bahn und rückt geduldig mit seinen Papieren zur Seite.“ Seine Ehrfurcht vor dem Leben erlaubte keine Ausnahme, weder bei Menschen noch Tieren. Alles Leben galt ihm gleich wertvoll, er achtete genauso die Taugenichtse. „Sie tragen viel mehr Liebe,Güte und Idealismus in sich als in ihrem Leben bemerklich wird. Das Gute in ihnen kann nicht an den Tag kommen, weil es die Verhältnisse nicht erlauben.“
Solch ausgeprägte Nächstenliebe führte Schweitzer auf eine glückliche Kindheit im Pfarrhaus des elsässischen Günsbach zurück, das heute Museum ist. Die Eltern ließen ihn gut ausbilden, unterstützten und lobten ihn. Er, der zweimal die Woche Fleischsuppe aß, erkannte, dass es den Spielkameraden schlechter ging. Seine Privilegien verpflichteten ihn zum Engagement. Da er nicht nur reden, sondern praktisch helfen wollte, begann der promovierte Theologe in Amt und Würden mit 30 Jahren ein Medizinstudium in Strasbourg. Alle schüttelten den Kopf, doch 1911 war er fertig, durchlief die Praktika und war Dr. med.
Am Ogowe-Fluss
Schon 1913 schiffte sich der 38jährige mit seiner Frau Helene und vielen Kisten nach Afrika ein. Nicht als Missionar sondern als Arzt, nahe der Stadt Lambarene wollte er ein Krankenhaus aus dem Nichts gründen. Die beiden begannen in einem Hühnerstall, die Anfänge waren mühsam, neben dem Bauen wollten die Patienten versorgt sein. Auch die Angehörigen, die für die Kranken kochten, mussten untergebracht werden. Dolmetscher waren nicht immer greifbar, Termiten fraßen sich durch die Kisten, Überschwemmungen zerstörten vieles, Medikamente fehlten. Das brutale Klima am Äquator trug dazu bei, dass der Europäer so manches Mal aus der Haut fuhr. Sein protestantisches Arbeitsethos kollidierte mit den afrikanischen Gepflogenheiten. Helene wurde krank. Sie musste die Tochter Rhena in Europa allein aufziehen und wohl oder übel das Engagement ihres Mannes akzeptieren. Der Doktor hielt sich aufrecht, indem er nach dem Essen Bach auf dem alten Klavier spielte. Nachts, unter der Petroleumlampe, assistiert von einem Pelikan, entwickelte er seine Ethik weiter.
Gegen Atombombentests
Durch seinen bald berühmten Namen wurde er weltweit gehört, wenn er im Radio und in Appellen den Stopp der Atombombentests und die völlige Abschaffung der Atombomben forderte. „Die Völker als solche müssen gegen Atomwaffen sein, wenn es gelingen soll, diese abzuschaffen“, schrieb er noch 1963, zwei Jahre vor seinem Tod. Auf diesem Feld blieb ihm der Erfolg versagt. Aber sein Prinzip der „Ehrfurcht vor dem Leben“ hinterließ Spuren. Sicher trug es ein wenig dazu bei, dass am 10. Dezember 1948 die Vereinten Nationen gleiche Rechte für alle Menschen festschrieben und dass 1949 die Würde aller Menschen in unserer Verfassung verankert wurde. Natürlich ist Papier geduldig, aber die Fixierung ist der erste notwendige Schritt.
Im Jahr 1959 verließ der 84jährige noch einmal sein Spital bei Lambarene in der damaligen französischen Kolonie Äquatorialafrika, die 1960 als Gabun unabhängig wurde. Zwölfmal hatte er bereits die mühsame Schiffsreise hinter sich, um in Europa mit Vorträgen und Orgelspiel Spenden für sein Spital zu sammeln. Von Geldern des ihm 1952 verliehenen Friedensnobelpreises hatte er ein menschenwürdiges Viertel für die Leprakranken bauen lassen. Am 4. September 1965 starb Albert Schweitzer mit 90 Jahren, er liegt in Lambarene begraben. Das Spital wird heute unterstützt vom Hilfsverein des Albert-Schweizer-Zentrums in der Frankfurter Wolfgangstraße 109, wo eine Dauerausstellung zu besichtigen ist. Auch der Staat Gabun steuert Geld bei, zu wenig allerdings. Nach der jüngsten Kürzung seiner Subvention scheint das Krankenhaus in seiner Existenz bedroht. Gabun ist zwar das reichste subsaharische Land, doch die meisten der knapp 2 Millionen Einwohner sind bettelarm, weil Einnahmen aus Rohstoff- und Ölexporten auch in die Taschen des Bongo-Clans fließen, der Gabun seit 1967 regiert.
Schweitzer, ein Halbgott im Tropenwald?
Eine kritischere und differenziertere Sicht als meine Darstellung vermittelt die Video-Dokumentation „Halbgott im Tropenwald – Albert-Schweitzers Lambarene“, die 43 Minuten lang ist und vor einem Jahr von der ARD gesendet wurde. Sie informiert über Lambarene und kritisiert den Patriarchalismus Schweitzers, der sich als Weißer letztlich den Schwarzen überlegen gefühlt habe. Man sollte dieses Video unbedingt ansehen, um sich der historischen Wahrheit vielseitig zu nähern: daserste.de (bis 30.9.2015 im Netz)
Konzert und Lesung ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ am 6. 9. in der Bad Homburger Erlöserkirche (nahe Sinclair-Haus und Schlosspark-Zedern) beginnen um 19.30 Uhr.