Auf den Geschmack kommen
Brot ist für Bernd Wettlaufer viel mehr als nur ein Nahrungsmittel. Ein Baguette ist für den selbständigen Bäckermeister aus Rockenberg nicht einfach nur knusprig und saftig. Für ihn hat es es zum Beispiel eine „herzhafte, röstig-aromatische, zartsplittrige Kruste“ und ein „saftig, mildsäuerliches, fruchtig-blumiges, frisches, fluffiges Innenleben der Krume“. Beim Geschmack stellt er „leichte bis starke Röstnoten von zartem Milchkaffee, Vanille und ausgebildeten Karamellvariationen“ fest. Bernd Wettlaufer ist Brotsommelier. Davon gibt es bislang nur 42 auf der Welt. Wie der Bäcker aus Rockenberg zu einem der raren Brotexperten wurde, das kam so:
Fast wie eine Bachelor-Prüfung
Durch Fachzeitschriften hatte Wettlaufer erfahren, dass die Akademie Deutsches Bäckerhandwerk in Weinheim die neue Fortbildung zum Brot-Sommelier anbietet. Er bewarb sich, wurde angenommen – und musste feststellen, dass dieser Lehrgang weit mehr ist als Krüstchen knabbern. „Elf lange Monate, 480 Stunden Vorlesungen, stundenlange Autofahrten mit Stau, 60 Seiten Fach- und Projektarbeit, vier dicke Ordner Lernstoff (acht Kilogramm) über nationale und internationale Brotkultur, Sensorik, Food Pairing, Aromakunde, Wein, Käse, Bier, Wurst und Aufstriche mit Präsentation“, stöhnt der 56-Jährige, der nicht nur ein enormes Lernpensum, sondern auch jeweils gut 110 Kilometer Anfahrt zu bewältigen hatte. Aber die Qual hat sich gelohnt. Der „Brottüftler“, wie er sich selbst nennt, ist nun „geprüfter Brotsommelier“, also ausgewiesener Experte für das Lebensmittel Nummer eins.
Eine 60 Seiten dicke Projektarbeit hat Wettlaufer abgeliefert. Die liest sich, als habe er sie für die Bachelor-Prüfung an einer Fachhochschule verfasst. Das Thema: „Untersuchung verschiedener Rohstoffe in der Brotherstellung unter Betrachtung der Liefer- und Versandfähigkeit (Online-Shop) im Hinblick auf Haltbarkeit, Qualität und Sensorik“. Er hat sie auch mit Hilfe der Technischen Universität München erstellt. Ziel seiner Untersuchung war es, Brot für den Onlinehandel zu backen, das ohne Backmittel und Zusatzstoffe möglichst lange frisch bleibt. Er entwickelte und buk fleißig Brot und schickte es an die TU München. Die untersuchte den Zustand der Laibe jeweils am 3. und am 7. Tag. Geprüft wurde, wie sich das Volumen entwickelt hatte und wie sich die Kaueigenschaften veränderten.
Wie Brot lange frisch bleibt
Wettlaufer arbeitete mit eingeweichtem Leinsamen und Sonnenblumenkernen, den sogenannten Quellstücken, und mit gekochten Kernen, den sogenannten Kochstücken, um das Brot möglichst lange frisch zu halten. Die Kochstücke würden sich besser eignen, weil sie die Feuchtigkeit langsamer abgeben, stellte er fest. Er experimentierte auch mit Apfelfasern. Die hätten das Brot besonders lange frisch gehalten, seien aber geschmacklich nicht akzeptabel, sagt er. Besser seien Zuckerrübenschnitzel. Die würden dem Brot ein „erdiges Aroma“ verleihen.
Der Rockenberger Bäckermeister betreibt bereits einen kleinen Online-Shop für Brot. Zuckerrübenbrot hat er (noch) nicht im Programm. Bislang beschränkt er sich auf den Versand seiner Klassiker, wie Vogelsberger Bauernbrot, das Urbrot und den Urbengel, den er aus alten Getreidesorten wie Dinkel, Emmer und Einkorn backt. Zu seinen Kunden gehört eine Frau, die aus der Wetterau nach Flensburg gezogen ist. Für die sei das Brot „der Geschmack der Heimat“, sagt Wettlaufer.
Die Weinheimer Brotsprache
In Weinheim hat Wettlaufer geübt, den Geschmack des Brotes zu erkennen und zu beschreiben. Er hat an Fläschchen gerochen und an Becherchen geschnüffelt. Und er hat gelernt, was ihm da in die Nase wehte und über den Gaumen strich, in der „Weinheimer Brotsprache“ zu formulieren. In der beschreibt er sein Maronenbrot „Toni Maroni“ so: „Unverkennbarer, einzigartiger Geschmack durch Kastanienmehl, Gewürze, Traubenkernmehl und ganze, gekochte und geröstete zart-süße Maronen, die aus der blaugrauen Krume wie am Sternenhimmel leuchten. Am langen Gaumen fleischig, saftig, feine Gewürze, samtenes Kauen und ein guter Nachhall.“
Sohn Fabio, 27 Jahre alt, selbst Bäckermeister, dazu noch Betriebswirt und Ernährungsberater, ist begeistert. „Mein Vater erklärt Geschmack“, schwärmt er. Er selbst könne als Bäckermeister beschreiben, wie Brot technisch hergestellt wird, sagt Fabio. Aber sein Vater bringe Verstand und Genuss zusammen. Fabio erwägt nun selbst, die Fortbildung zum Brotsommelier zu machen. Da muss er sich aber gedulden. Die Nachfrage ist groß, sagt sein Vater. Bis zum fünften Kurs seien schon alle ausgebucht.
Während der Fortbildung werden die betriebswirtschaftlichen Grundlagen ebenso gepaukt wie die Produktkunde: Backverfahren, Brotbegriffe, Nährstoffe, Allergene und Frischhaltung. Auch die Geschichte der deutschen Brotkultur wird gepaukt. Von der Frühgeschichte der Brotherstellung über die Vielfalt und Regionalität, das Brot in Brauchtum, Sprache, Kunst und Religion, die internationale Verbreitung bis hin zur Organisation der Backbranche in Deutschland und Brotspezialitäten aus anderen Ländern.
Zutaten am Geruch erkennen
Die sensorischen Fähigkeiten der Teilnehmer werden geschult, zum Beispiel müssen Brotzutaten anhand des Geruchs erkannt und beschrieben werden. Brotfehler müssen festgestellt und benannt werden. Er habe ein Brot gehabt, das deutlich zu wenig gesalzen war. Wettlaufer kritisierte es durch die Blume, wie er erzählt. „Dieses Brot schreit nach gesalzener Butter“, habe er gesagt.
Brot backen ist für den Rockenberger Bäckermeister mehr Berufung als Beruf. Es in höchster handwerklicher Vollendung zu kreieren, ist seine Leidenschaft. „Je natürlicher und ursprünglicher die Herstellung, desto besser ist der Geschmack. Denn guter Geschmack benötigt keine synthetischen Zusatzstoffe“, sagt er. Um seinen Brotverstand auszubauen, kam die neue Ausbildung gerade recht. Nun kann er nicht nur bestes Brot produzieren, sondern den Geschmack seiner Werke auch in der Weinheimer Brotsprache blumig beschreiben. Und er kann seinen Kunden sagen, welches Brot am besten zu welchem Wein, zu welcher Wurst, zu welchem Käse und sogar zu welchem Whiskey passt. Mit einem Bad Nauheimer Weinhändler hat er schon Weinproben gemacht, bei denen er das Brot zum Wein ausgesucht hat.
Eine Geschmacksbombe
Der Brotsommelier empfiehlt eine Geschmacksbombe: Ein Früchtebrot belegt mit Blauschimmelkäse. Davon Abbeißen, gut kauen und einspeicheln, dann einen Schluck süßen Wein dazu. „Man erlebt eine Geschmacksexplosion“, schwärmt der Brotsommelier. Nicht jedermanns Sache ist eine andere Kombination: Ein Brot mit eingelegtem Pfeffer mit Zitrone und Brotklee. Beim Kauen entfaltet sich Schärfe, sagt Wettlaufer. Dazu dann einen Schluck guten, schweren Rotwein. „Zu jedem guten Essen gehört ein gutes Brot“, sagt Wettlaufer.
Bernd Wettlaufer stammt aus einer alten Bäckerfamilie, ist Bäcker in der fünften Generation. „Die Wurzeln unseres Betriebes liegen im Jahr 1888“, heißt es in einem Werbeblatt des Rockenbäckers. Wettlaufer hat die Bäckerei Schmidt in Rockenberg gepachtet und betreibt sie zusammen mit seinem Sohn. Acht Verkaufsstellen hat der Betrieb. Die neueren firmieren als „Rockenbäcker“, darunter auch der „Brotkulturladen“ in der Frankfurter Straße in Bad Nauheim.
Die Brottüftler
Gemeinsam mit Fabio tüftelt er an neuen Brotsorten. Statt auf Backhilfen würden sie auf Zeit setzen, sagt Wettlaufer. Ihren Sauerteig ziehen sie selbst, auch den eher ungewöhnlichen auf Weizenmehlbasis für ihre Baguette. Zwölf bis 24 Stunden dauere der Reifeprozess. Ausgetüftelt haben die beiden zum Beispiel eine „Hellasstange“, das ist eine Roggenstange mit Schafskäse, Oliven und Peperoni. Ihre neuen Kreationen kämen bei den Kunden gut an, sagen die beiden. „Der Deutsche Brotmarkt ist so offen, die Kunden sind so toll“, schwärmt Wettlaufer. Dennoch seien die Zeiten für die handwerklichen Bäckereien hart. „Der Konkurrenzdruck ist stark“, sagt Wettlaufer. Durch seine Ausbildung zum Brotsommelier sieht er sich besser gewappnet, um sich auf dem Markt zu behaupten. Er streite dafür, dass Brot in den Bäckereien gekauft und nicht beim Discounter verramscht wird. Brot sei „Lifestyle“, der Auftrag des Bäckers habe sich geändert. Er habe sich weg vom Versorger hin zur „Genusswertschöpfung von Brot“ entwickelt.
Der Rockenberger Bäckermeister sucht die Herausforderung. 2014 hatte er sich bereits für die neue ZDF-Sendung „Deutschlands beste Bäcker“ beworben, in der Starkoch Johann Lafer die besten Konditoren suchte. Unter 1500 Bewerbern hatte er es unter die 72 geschafft, die für die Sendung ausgewählt wurden.
Und Bernd Wettlaufer kann auch ganz gut für sein Handwerk klappern. Werbewirksame Sprüche kann er mindestens so schnell formulieren wie Brot in den Ofen schieben. . „Ich bin der Genussjäger, Genussgipfelstürmer – und habe ein Bergsteigerbrot“, zum Beispiel. Oder: „Hier sehe ich Germanys next top Stulle.“ Und: „Ich gebe dem Brot die Seele zurück.“
Die zentrale Bildungseinrichtung
Die Akademie Deutsches Bäckerhandwerk Weinheim ist die zentrale Bildungseinrichtung aller Landesinnungsverbände der Bäcker sowie des Zentralverbandes des Deutschen Bäckerhandwerks. Sie wurde am 8. Dezember 1938 ein einem ehemaligen Hotel und Restaurant in Weinheim eröffnet. Von 1944 bis 1948 war sie kriegsbedingt geschlossen. Im Jahr 1948 wurde sie als „Bäckerschule Weinheim“ unter der Trägerschaft des Bäckerverbandes Baden wiedereröffnet. 1960 erfolgte die Umbenennung in „Fachschule Weinheim des Deutschen Bäckerhandwerks“, 1969 wurde der Name in „Bundesfachschule des Deutschen Bäckerhandwerks“ geändert und 2006 schließlich in „Akademie Deutsches Bäckerhandwerk Weinheim“.
Seit 2015 bietet die Akademie die Fortbildung zum „Geprüften Brotsommelier“ an. Sie ist einzigartig in der Welt. Voraussetzung für die Teilnahme ist eine Ausbildung zum Bäckermeister oder ein vergleichbarer Abschluss. Etwa 15 Personen können jeweils an der elf Monaten währenden, berufsbegleitenden Ausbildung teilnehmen. 42 haben sie bislang abgeschlossen.
Wer Bernd Wettlaufers Dienste als Brotsommelier in Anspruch nehmen möchte, kann sich unter Telefon 06033/66823 melden.