Pass auf, was du sagst
Von Michael Schlag
Dreh und Angelpunkt der neuen Tabus ist das Moralisieren, schreibt der Wissenschaftsjournalist und Psychologe Steve Ayan in dem lesenswerten Essay „Was man noch sagen darf – Die neue Lust am Tabu.“Ärgerliches Moralisieren
Man darf heute sagen, dass man Atomkraft für eine vernünftige Energiequelle hält. Man darf sagen, dass Dieselautos eine gute Sache sind, dass die Bienen irgendwie klarkommen und dass das Klima schon immer rauf und runter ging. Dafür wandert man nicht in den Gulag und es kommt auch nicht die heilige Inquisition. Aber man sollte trotzdem aufpassen, was man von sich gibt, man riskiert gesellschaftliche Ausgrenzung, schadet seinem Ansehen, es drohen gar Zerwürfnisse mit Freunden. Soweit der eigene Blick auf die Welt, nun zum Buch:
Klar, man darf alles sagen, „fragt sich nur, um welchen Preis“, schreibt Steve Ayan in dem lesenswerten Essay „Was man noch sagen darf – Die neue Lust am Tabu.“ Dreh- und Angelpunkt der neuen Tabus sei das Moralisieren, schreibt der Wissenschaftsjournalist und Psychologe. Da sieht man nicht einfach Auffassungen und Argumente, die man selbst für verkehrt hält. Nein, mit so jemandem redet man nicht. Und wer stur das generische Maskulinum verwendet – wie hier im Moment – der hat auch keine Moral, am Ende liest der sogar noch Pippi Langstrumpf in der Originalfassung. Steve Ayan seziert, was gerade mit unserer Meinungsfreiheit passiert, wenn man sie einer herrschenden Moral unterwirft: Wer moralisiert, spricht anderen Sichtweisen schlichtweg die Legitimität ab. Und Moralisieren verfolgt einen Zweck, es diene vor allem der Selbstauszeichnung, schreibt Ayan. Man braucht dafür nämlich eine Gegenseite, zur Not schafft man sie selber, denn „eigene Aufwertung bedarf der fremden Abwertung“, sonst funktioniert es nicht.
Eine Form der Nötigung
Dabei ist das Moralisieren erstmal gut gemeint. Es dient der Gleichberechtigung und dem Schutz von Schwächeren. Man soll nicht verletzend oder mit Vorurteilen über andere sprechen. Begriffe, die eine fürchterliche Geschichte repräsentieren, sollte man nicht mehr verwenden. Aber wieso müssten wir deshalb unsere Sprache mutwillig verschandeln? Mit Sternchen, Doppelpunkten und einer seltsam abgehackten Sprache, die im selben Wort männlich und weiblich sein soll. „Für Dinge, die eben noch normal waren, muss man sich auf einmal rechtfertigen“, schreibt Ayan, und empfindet das als eine Form der Nötigung, „man wird damit einfach nicht in Frieden gelassen.“
Es gab Zeiten, da konnte es einen sehr teuer zu stehen kommen, die Unfehlbarkeit des Papstes anzuzweifeln. Solche Tabus ließen sich heute zwar nicht mehr per Dekret durchsetzen, verschwunden sind sie aber nicht, sie erscheinen wieder in Form der Deutungshoheit. „Es dominiert das Primat der Verletzlichkeit“, schreibt Ayan, hält es allerdings für kaum belegt, dass ein Wort wie „Indianer“ Menschen wirklich retraumatisieren kann und die kulturelle Aneignung eines Karnevalskostüms sie ihrer Identität beraubt. Viele Menschen fühlten sich heute umzingelt von Unsagbarem, schreibt Ayan und kommt zum Fazit: „Wir müssen den Wert des Meinungsdissenses und der unterschiedlichen Perspektiven wieder neu entdecken und dürfen dabei nicht zu empfindlich sein“. Dächten alle das Gleiche, wäre Meinungsfreiheit ja gar nicht so wichtig.
Steve Ayan: „Was man noch sagen darf – Die neue Lust am Tabu“, Erschienen im Carl-Auer Verlag in der Serie „update gesellschaft“, ISBN 978-3-8497-0453-7, 2. Auflage 2023, 90 Seiten, 14,50 Euro.
Blick ins Buch: carl-auer.de
Ein Interview mit dem Autor Steve Ayan ist zu hören im Deutschlandfunk: deutschlandfunk.de/steve-ayan