Logistikzentrum Wölfersheim vor Gericht
Von Klaus Nissen
Eigentlich sollte das 26 Hektar große Logistikzentrum an der Autobahn-Auffahrt zwischen Wölfersheim und Berstadt schon im Jahr 2023 öffnen. Doch das Projekt des Supermarktkonzerns Rewe kommt nicht voran – die Baustelle ist noch immer eine Wiese. Ein Bündnis aus Landwirten, Kirchenleuten und Umweltschützern verhindert bislang den Bau der knapp 90 000 Quadratmeter großen und 30 Meter hohen Lagerhalle. Der Streit darum führte zu mehreren Prozessen. Die Entscheidungen der Gerichte haben auch Folgen für andere Großprojekte in Deutschland.Großprojekt von Rewe kommt nicht voran
Eine Stunde lang befasste sich das fünfköpfige Richter-Team des Vierten Senats am 8. November 2022 mit dem Multi-Millionenprojekt. Im Leipziger Gerichtsgebäude hörte es die Vertreter des Regierungspräsidiums Darmstadt, der Gemeinde Wölfersheim und des hessischen Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) an. Letzterer klagt in dritter Instanz gegen das Land Hessen.
Denn nach dem geltenden Regionalplan war das Bauland als hochwertiger Acker ursprünglich nur für die Landwirtschaft nutzbar. Doch auf Wunsch der Wölfersheimer Gemeindevertreter ließ das Regierungspräsidium im Jahr 2017 ein „Zielabweichungsverfahren“ zu. Mit großer Mehrheit erlaubten damals die Lokalpolitiker in der Regionalversammlung Südhessen den Bau der verkehrsgünstig liegenden Lagerhalle.
Der Flächennutzungsplan ist veraltet
Der BUND zog dagegen vor das Verwaltungsgericht – auch aus grundsätzlichen Gründen. Denn eine Zielabweichung „ist eine reine Verwaltungsentscheidung mit einem begrenzten Empfängerkreis nach einem nicht öffentlichen Verfahren“, meint Werner Neumann vom Landesvorstand der Umweltschutz-Organisation. Man könne sie nur sehr eingeschränkt durch Gerichte überprüfen lassen.
Viel zu häufig gebe es diese vom Flächennutzungsplan abweichenden Sondergenehmigungen, so Neumann. Seit 2016 habe die Regionalversammlung 34mal Zielabweichungen beschlossen. Besser sei es, den gesamten Regionalplan wie eigentlich vorgesehen alle zehn Jahre komplett neu zu beschließen. Das hätte für Südhessen im Herbst 2021 geschehen müssen, blieb aber aus. Dieses Verfahren ist sehr aufwändig und erfordert die Beteiligung zahlreicher Verbände.
Der BUND sei in der Sache überhaupt nicht klagebefugt, befanden das Regierungspräsidium Darmstadt und später auch zwei Verwaltungsgerichts-Instanzen in Gießen und Kassel. Wie das Bundesverwaltungsgericht es sieht, steht noch aus.
Es hat grundsätzliche Bedeutung, falls das Bundesverwaltungsgericht die Zielabweichung zugunsten des Wölfersheimer Logistikzentrums kippt. Dann würde es schwieriger werden, neue Großprojekte durchzusetzen, die nicht zu den Vorgaben eines älteren Flächennutzungsplanes passen. Beispielsweise stünde dann auch das große Wiesbadener Neubaugebiet „Ostfeld“ auf wertvollem Ackerland infrage, hoffen die Umweltschützer vom BUND.
Der juristische Streit dauert schon fünf Jahre an
Wenn das Bundesverwaltung dem BUND ein Klagerecht gegen die Zielabweichung einräumt, dann muss danach der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel erneut beraten, ob das große Lebensmittellager wichtiger ist als die Landwirtschaft und der Lebensraum für Vögel und Feldhamster. Falls die Leipziger Richter dagegen im Sinne der Bauherren von Rewe urteilen, plant der BUND den Gang zum Europäischen Gerichtshof.
Schon fünf Jahre dauert das juristische Ringen um den Bau des Nachschublagers bei Wölfersheim. Eigentlich wollte das Bundesverwaltungsgericht am 10. November sein Urteil in der Sache verkünden. Doch dann platzte eine neue Nachricht herein.
Der neue Aspekt ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, also der höchsten juristischen Instanz in der EU. Es geht dabei um eine andere Sache – aber ein ähnliches Verfahren. Unter dem Aktenzeichen C-873/19 beklagt die Deutsche Umwelthilfe das Kraftfahrtbundesamt in Flensburg. Es hatte dem Volkswagen-Konzern erlaubt, neue Autos mit einem „Thermofenster“ zu bauen. Die Abgasreinigung wird dabei zeitweise gedrosselt. Die Einwände der Umwelthilfe dagegen lehnte das Bundesamt ab, weil die Umweltschützer kein Klagerecht hätten.
Auch ein VW-Prozess spielt im Streit eine Rolle
Doch der Europäische Gerichtshof sah das anders. Er verkündete am 8. November 2022 in Luxemburg: Anerkannte Umweltvereinigungen müssen eine Typgenehmigung für Fahrzeuge, die mit möglicherweise verbotenen Abschalteinrichtungen ausgestattet sind, vor Gericht anfechten können.
Die obersten Verwaltungsrichter in Leipzig müssen nun entscheiden, ob dies auch ein Klagerecht für Umweltverbände gegen Bauprojekte wie das Rewe-Logistikzentrum zur Folge hat. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Hessen und das Regierungspräsidium in Darmstadt für die Landesregierung sollen dazu Stellungnahmen abgeben, so die Sprecherin des Bundesverwaltungsgerichts. Wann in der Sache entschieden wird, ist noch unklar. Gut möglich, dass Bodenbrüter und Feldhamster noch eine weitere Saison auf dem Areal zwischen Wölfersheim und Berstadt ihren Nachwuchs aufziehen können.
Der neue Regionalplan kommt frühestens 2024
So oder so geht das großflächige Bauen in der eng besiedelten Rhein-Main-Region per „Zielabweichung“ weiter. Ein Sprecher des Regierungspräsidiums Darmstadt gab auf Anfrage bekannt, dass neue Infrastrukturprojekte noch eine Weile per „Zielabweichung“ ermöglicht werden müssen, weil sie nicht im gültigen Flächennutzungsplan stehen. Beispielsweise das große Frankfurter Neubaugebiet östlich der A5. Was auch in Ordnung sei, denn die Beschlüsse würden von demokratisch gewählten Regionalpolitikern getroffen – nämlich den 99 Vertretern der Städte und Gemeinden in der Regionalversammlung Südhessen.
Ein Ersatz für den regulären, seit einem Jahr überfälligen Flächennutzungsplan wird kommen, so der RP-Sprecher. Die Details würden momentan beim Regierungspräsidium Darmstadt und von den Planern im Regionalverband FrankfurtRheinMain erarbeitet. Der Entwurf soll Ende 2023 vorgelegt werden. Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist ab Frühjahr 2024 geplant.
Parallel dazu geht das Ringen um das Wölfersheimer Logistikzentrum in einem anderen Prozess weiter. Ende Mai 2022 hatte der Wetteraukreis die Baugenehmigung an die Rewe-Zentrale geschickt. Sie wollte dann umgehend mit den Erdarbeiten loslegen. Zuerst wollte Rewe 80 000 Kubikmeter Mutterboden abschälen und auf den angrenzenden Feldern verteilen. Dann sollte eine Baugrube angelegt werden. Doch der BUND legte Widerspruch ein.
Nun muss wiederum das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entscheiden, ob dieser Widerspruch eine aufschiebende Wirkung hat. Ein Verhandlungstermin steht noch nicht fest. Rewe hätte im Sommer 2022 rein rechtlich die Bagger auf das Grundstück zwischen der B455 und der A45 rollen lassen. „Aber wir warten lieber, bis wir Rechtssicherheit haben“, sagte die Konzernsprecherin Anja Löwe. So wächst vor Ort weiter das Gras.
Zur Sache: Das Rewe-Logikzentrum
Es gebe zu wenig Platz für den Nachschub der vielen Rewe-Supermärkte in Mittelhessen und dem Rhein-Main-Gebiet. Die bisherigen Logistikzentren in Rosbach und Hungen seien zu klein, sagten Manager des Konzerns im Jahr 2017. Man wolle sie an der Autobahnauffahrt Wölfersheim zusammenlegen. Bis zu 45 000 Supermarktartikel sollen dort in täglich etwa 1100 Lastwagen-Fuhren an die Märkte verteilt werden.
In der Hoffnung auf bis zu 550 neue Arbeitsplätze und hohe Gewerbesteuer-Einnahmen trieb das von der SPD dominierte Parlament von Wölfersheim das Projekt voran. Die Gemeinde kaufte die fruchtbaren Felder zwischen der B455 und der A45 bei Berstadt von den Eigentümern und reichte sie Ende 2020 für einen Millionenbetrag an den Rewe-Konzern weiter.
Unter der Grasnarbe fand man ein Dorf aus der Jungsteinzeit
Doch ein Bündnis für Bodenschutz von Landwirten, Kirchenleuten und Umweltschützern ging mit Demonstrationen, einer Petition und juristisch gegen die geplante Bodenversiegelung vor. Es gab einen Baustopp und diverse parallel laufende Klagen – von denen eine in dieser Woche wohl die grundlegende Entscheidung bringt.
Nutznießer des ganzen Streits waren die Archäologen. Sie bekamen wegen des Baustopps mehr Zeit als veranschlagt, um die Äcker zu untersuchen. Und fanden im Sommer 2019 die Reste eines 7000 Jahre alten Steinzeitdorfes. Entdeckt wurden Lehmgruben, Gräber und Pfostenlöcher von etwa 15 schiffsförmigen Häusern aus der Rössener Kultur der Jahre 4900 bis 4500 vor Christus.