„Wir fahren auf allerkürzeste Sicht“
Auch im nächsten Quartal kommen mindestens 1500 Menschen vorwiegend aus Syrien und Afghanistan in die Wetterau. Die staatlichen Ebenen müssen besser zusammenarbeiten, um den Zustrom zu bewältigen – das meinten viele Teilnehmer der Friedberger Flüchtlingskonferenz am 27. November 2015.
Noch mehr Flüchtlinge
Da kommen noch viele auf uns zu. Rund drei Millionen Flüchtlinge leben in den Lagern rund um das Bürgerkriegs-Land Syrien. Etwa eine Million von ihnen wird bis Jahresende nach Europa aufbrechen, zitiert Friederike Lenz vom Hessischen Sozialministerium das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. In den Lagern bekommen die Flüchtlinge zu wenig zu essen, weil die UN-Staaten nicht genug Geld bereitstellen. Die eigenen Reserven haben die geflohenen Syrer längst aufgebraucht. Ihre Lage ist verzweifelt. Sie werden nach UN-Einschätzung in Richtung Deutschland aufbrechen. Egal, ob man sie dort freiwillig aufnimmt oder nicht.
Momentan verlassen laut Friederike Lenz täglich rund 5 000 Menschen Griechenland in Richtung Norden. In Deutschland kommen täglich noch 8 000 bis 10 000 Flüchtlinge an. In Hessen landeten im Oktober rund 20 000 Flüchtlinge – zurzeit kommen jeden Tag 700 bis 900 Menschen hinzu. Allein am 28. Oktober wuchs die hessische Bevölkerung so um 1341 Menschen. Knapp zwölf Prozent von ihnen sind Iraker, 26 Prozent aus Afghanistan und knapp 42 Prozent aus Syrien. Friederike Lenz vermutet, dass etliche Afghanen und Iraker in der Türkei gefälschte syrische Pässe kaufen, die dort günstig zu haben seien. Denn Syrer müssten nicht zur Anhörung, um in Deutschland vorläufig bleiben zu können. „Es ist aber geplant, die Anhörung wieder einzuführen“, so die hochrangige Landesbeamtin bei der zweiten Wetterauer Flüchtlingskonferenz im Friedberger Kreishaus.
Rund 1500 neue Flüchtlinge im ersten Quartal
Wie viele Flüchtlinge wohl im ersten Quartal 2016 eintreffen, fragte Butzbachs Bürgermeister Michael Merle. Friederike Lenz schüttelte den Kopf – das wisse niemand. Klar sei nur: Der Zustrom werde kaum geringer. Dem Wetteraukreis wurden bis Jahresende 30 bis 50 Prozent mehr Flüchtlinge avisiert, berichtete Sozialdezernent Helmut Betschel. Und aus den 30 Erstaufnahme-Einrichtungen des Landes werden von Januar bis Ende März mindestens 1500 Menschen in den Kreis kommen, schätzt der Grünen-Politiker. An der Friedberger Pfingstweide bringt er 20 von ihnen sogar im Zelt unter. Darin sei es allerdings „mollig warm“.
Die Zusammenarbeit zwischen dem Land und dem Kreis ist in Sachen Flüchtlingsbetreuung nicht befriedigend. Besonders dramatisch malte Landrat Joachim Arnold die Situation. Den SPD-Politiker ärgert, dass er für das Land in zwei Niddaer Sporthallen eine „Überlaufeinrichtung“ mit 700 Flüchtlingen betreiben muss. Da gebe es ein stetes Kommen und Gehen, aber kein geregeltes Verfahren. Die Leute seien nicht registriert, viele verschwänden plötzlich. „Wir haben ein blankes Chaos in der Koordination“, schimpfte Arnold. „Das ist Anarchie“. Die Landes-Vertreterin sah es ganz anders: „In Hessen sind wir im Ländervergleich sehr gut aufgestellt. Die Flüchtlinge werden sehr gut versorgt.“ Gleichwohl konnte Friederike Lenz nicht sagen, wann und wie die angekündigten Erstaufnahme-Einrichtungen in den früheren US-Kasernen in Friedberg und Büdingen den Betrieb aufnehmen.
Es kam noch dicker für die Abgesandte der Landesregierung. Das Land weigere sich, die Auflagen beim Brandschutz und manche Baurichtlinien zu lockern, klagte Arnold. So sei es schwierig, in einem Gewerbegebiet schnell die dringend gebrauchten Wohnräume zu bauen. Mit Blick aufs Land sagte Florstadts Bürgermeister Herbert Unger: „Manche Behördenmitarbeiter sind nicht bereit, von der gewohnten Denkweise abzuweichen. Ich vermisse den Mut, auch mal Entscheidungen zu treffen!“ Die Leute aus den Regierungspräsidien müssten nur mal eine Woche an der Basis arbeiten, wünscht sich Landrat Arnold.
Auf den staatlichen Ebenen gebe es zu viel Gezerre um Geld und Verantwortlichkeiten, meinte Johannes Hartmann. Der Sprecher der vielen ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer mahnte eine „konzertierte Aktion“ an. Die enorm belasteten Sozialarbeiter brauchten dringend Verstärkung. Und es könne nicht sein, dass ein Flüchtling nur deshalb nicht medizinisch behandelt wird, weil sein Sozialarbeiter gerade krank oder im Urlaub ist. Die Gesundheitskarte für Flüchtlinge müsse dringend herbei.
Auf lokaler Ebene gibt es eine gute Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen und den immer zahlreicheren Freiwilligen, lobte Hanne Schirmer von der Liga der freien Wohlfahrtsverbände. Wichtig sei, die Vereine in die Flüchtlings-Integration einzubinden. „Denn viele Flüchtlinge werden hierbleiben. Man dürfe auch die ärmeren Einheimischen nicht benachteiligen. „Alle brauchen Wohnraum, Alltag, Ruhe und Normalität.“
Nur einer wollte am Freitag lieber Krawall. Der Büdinger NPD-Politiker Daniel Lachmann erschien in einem T-Shirt mit ausländerfeindlichem Motto bei der Flüchtlingskonferenz. Landrat Arnold verwies ihn des Saales. Doch erst nach 30 Minuten verließ er mit einer Polizei-Eskorte laut schimpfend das Kreishaus. Lachmann will nach eigener Aussage gegen den Saalverweis klagen.