Jäger holen sich nasse Füße
Von Detlef Sundermann
Rund 70 Treiber und Jäger traten im 1300 Hektar großen Jagdgebiet im und um das Forstrevier „Neuwirtshaus“ im Hanauer Staatswald zum Jagen an. Fröhlich war es nicht, denn es regnete in Strömen. Landbote-Autor Detlef Sundermann war dabei.
Auf Blei wird verzichtet
Das ist immer das gleiche“, stößt Christian Schaefer frustriert aus. Der Leiter des Forstamtes Hanau-Wolfgang verlangsamt die Fahrt des Pickups, um mit dem Blick das Rudel zu verfolgen. Sechs, sieben, acht Stück Damwild kreuzen rund 50 Meter vor Schaefer die Schneise. Gelassenen Schrittes wechseln die grau-schwarz befellten Tiere die Seiten. Noch bevor Schaefer die Kreuzungsstelle erreicht, ist das Wild mit gemächlichen Tempo im herbstfarbenen Dickicht nahezu verschwunden. Für Schaefer bleibt nur noch, dem Wild nachzugucken, denn die Jagd ist seit gut einer viertel Stunde offiziell beendet. Das hat sich offenbar auch beim Wild im Revier des Staatswaldes herumgesprochen.
Der Tag fing schon nicht so gut an. „Das ist mit das schlechteste Wetter, das wir bei einer Herbstjagd hatten“, sagt Schaefer am Morgen vor dem Forsthaus, wo sich rund 70 Treiber und Jäger versammelt haben. Der zweite Hinweis nach der Begrüßung lautet, es wird erstmals ausschließlich nicht mit Blei geschossen, zum Schutze der Umwelt und der Verbraucher, die sich das erlegte Wild schmecken lassen.
Der Regen rinnt ohne Unterlass aus den Wolken und die vier bis fünf Grad Celsius Lufttemperatur wären für jeden anderen Waldbesucher an diesem Tag ein weiterer Grund, die Jagd abzublasen. Einer der Teilnehmer zeigt Galgenhumor: „Meine Wetter-App teilt mir aber mit, dass es jetzt nicht regnet.“ Drei Stunden später trifft dies tatsächlich zu. Aber dann ist es egal, bis dahin ist ohnehin nur noch wenig am Leib trocken. Outdoor-Jacken sind eben nicht lebenslang regendicht. Aus den Wanderstiefeln mit Goretex-Futter presst sich bei jedem Schritt Wasser, um bei Aufsetzen des Fußes auf den durchtränkten Waldboden wieder neues aufnehmen zu können. Und das ständige Durchqueren von Flächen mit dicht stehendem Adlerfarn mit kaum erkennbaren Wasserlachen sorgt obendrein dafür, dass der Pegel in den Stiefeln nie Trocken fällt. Der Gedanke an trockene Ersatzsocken im Auto lässt jedoch kein „Jetzt reicht’s“ aufkommen. Treiber sollten besser norwegische Gummistiefel vom Modell „Elk Hunter“ an den Füßen tragen, das steht fest.
„Bewegungsjagd“
„Treiber“, das hört sich nach Leuten an, die Tumult im Wald veranstalten, damit das aufgescheuchte Wild in seiner Flucht den Schützen kopflos vor die Flinte rennt. So läuft es aber nicht ab. Das Forstamt hat zu einer „Bewegungsjagd“ eingeladen. Die Treiber sollen das tief im Wald steckende Wild lediglich in Bewegung bringen. Auf gehetztes Wild zu schießen, wäre zudem aus kulinarischer Sicht unklug. Die dabei massenhaft ausgeschütteten Stresshormone und die Übersäuerung der Muskulatur durch das Flüchten sind der Geschmacksnote von Wildfleisch alles andere als zuträglich. Daher werden die rund 70 Schützen im ungefähr 1300 Hektar großen Jagdgebiet im und um das Forstrevier „Neuwirtshaus“ die Hochsitze erklimmen und in aller Geduld auf das warten, was ihnen die Treiber an Reh, Wildschwein oder Damwild vor den Gewehrlauf bewegen. Gejagt wird jedoch nicht in erster Linie für den Teller, wie einst zu Zeiten von Hubertus von Lüttich, dem späteren Schutzpatron der Jäger, Metallarbeiter, Mathematiker und anderen. Der Tierbestand ist hoch, sagt Schaefer. Das tue dem Wald nicht gut. Milde Winter und reichlich Nahrung – mutmaßlich eine Folge des Klimawandels – lassen die Populationen steigen, die keinen natürlichen Feinden ausgesetzt sind, die haben jedoch die Jäger etwa in den Tierschützern.
Bevor die Jagd eröffnet wird, betet Schaefer vor versammeltem Teilnehmerfeld eine Liste mit Regeln herunter, nach denen der Hessenforst-Betrieb die Jagd ablaufen lässt. Die Jagdethik steht für den Ruf des Forstamtes. Wer gegen Regeln verstösst, kann gleich seine Sachen packen, droht Schaefer. Er geht auch eindringlich auf die Sicherheitsvorschriften ein – gleichwohl sie jeder Schütze bereits mit einer Jagdscheinprüfung intus haben müsste. Die Wahrscheinlichkeit, beim Ausüben der Jagd um Gesundheit und Leben zu kommen, ist nicht vernachlässigbar gering. Laut Wikipedia gab es etwa im Jahr 2009 unter den bundesweit knapp 350 000 Waidfrauen und -männern 854 registrierte Unfälle, einer davon durch eine tödliche Kugel. In manchen Jahren sind es aber auch zwei, drei Fälle mehr. Dem Deutschen Jagdverband zufolge soll die Todesrate bei Jägern durch Schusswaffenumgang bei höchsten 0,003 Prozent liegen. Dennoch: Das Tragen von Klamotten in Signalfarben auf der Jagd gehört längst zur Pflicht. Das gilt auch für Liebhaber des traditionellen grünen Jägerlodens, die sich dann mit Reflexionsband an Hut und Warnweste über dem Wams auffällig machen. Das Gros der Unfälle geht laut Statistik allerdings etwa auf Selbstverletzungen mit dem Messern beim „Aufbrechen“ des erlegten Wilds und vor allem beim Durchstreifen im Unterholz zurück. Wie viele Jagdbeteiligte das tückische Adlerfarn auf dem Gewissen hat, dessen im Herbst halbflach liegende Wedel leicht zu Stolperfallen werden und die die Bodenbeschaffenheit darunter selten preisgeben, geht aus der Statistik nicht hervor. Und dabei müssen vor allem die Treiber ins Adlerfarm.
Manchmal kracht ein Schuss
Auch Schaefer treibt. Im mäßigen Tempo arbeitet er sich durch dichte Schonungen und den Adlerfarn. Dann gibt er hin und wieder ein lautes „Aaarrrr“ vor sich oder scheppert mit einem Aluminumblech, das er zufällig im Wald findet – vermutlich vor Jahrzehnten von GIs bei einer Truppenübung im Forst liegen gelassen. Zumeist schweigen aber die Treiber. Schaefers gelegentliches Gescheppere erweist sich für den gut 30 bis 50 entfernten Mitgeher als nützliche Orientierungshilfe. Zeitweilig geht der Sichtkontakt verloren und man fühlt sich ein wenig als „Hänsel“, der nun allein durch den Wald stampft, durch dem ab und an dumpf ein Schuss kracht. Schaefer hat noch seinen Rauhhaardackel dabei, der „Lotte“ heißt und unermüdlich durch das Unterholz wuselt. „Ein Familienhund, kein ausgebildeter Jagdhund“, sagt Schaefer. Gelegentlich marschiert aus der Entfernung ein Rudel Reh- und Damwild vorbei. „Lotte“ versucht mit niedlichem Gebell das Rudel einzuholen. Das würde auch gelingen, wären die Beine von „Lotte“ nicht so kurz.
13 Uhr 15, die Jagd ist beendet. Schaefer sammelt neben zwei verirrten Treiberhunden die ihm zugeteilten Schützen ein. Ohne diese Prozedur darf keiner seinen Stand verlassen. Die Schützen geben dabei gleich einen ersten Bericht. Schaefers Leute haben keine Abschüsse zu melden. Wild war zu sehen, aber nicht so platziert, dass ein sicherer waidmännisch-gerechter Schuss möglich gewesen wäre, heißt es. Einige Tiere seien in guter Sichtweite entlang der Autobahn gezogen. Sicher für das Wild, dumm für den Schützen, denn der Streifen am Schutzzaun an der A45 ist neutralisiertes Terrain. Der Regen hat die Schützen hauptsächlich vergeblich warten lassen, heißt es. Das Wetter war offenbar selbst für das Wild zu schlecht. Es bliebt zumeist in seiner Deckung, wird vermutet. Ein Treiber erzählt, er sei beinahe auf ein Tier getreten, das – wie sollte es anders sein – unter Adlerfarn geschützt ruhte.
Mehr als 30 Stück Wild sind geschossen worden, gut ein Viertel unter dem Durchschnitt der Vorjahre, resümiert Schaefer. Das erlegte Wild wird zum Forsthaus gefahren, manch Jäger nimmt jedoch seinen Abschuss zur Eigenverwertung mit. Mitarbeiter des Forstamtes nehmen die verbleibenden Tiere aus und bugsieren sie dann ins Kühlhaus. Das soll man lieber nicht fotografieren, sagt Schäfer. Das errege nur manche Gemüter. Später wird das Wild, das wie Kuh und Schwein eine Nummer zur Identifikation hält, zu Fleischwaren verarbeitet und im Waldladen des Forstamtes Wolfgang verkauft neben Honig, Likören und anderem.
Derweil laufen auf dem Gelände der nahegelegenen Klosterruine die Vorbereitungen zum Halali, dem rituellen Abschluss des Jagdtags. Dort sorgt ein Holzfeuer für wohlige Wärme, Heißgetränke und Kuchen vom Blech werden ausgeteilt. Geschwatzt wird, aber für Jägerlatein war es wohl diesmal nicht der Tag. Auf einer Matratze aus Tannenzweigen wird eine „kleine Strecke“ aus je ein Reh, Dam- und Schwarzwild gelegt. „Das hat heute nur noch symbolischen Charakter“, sagt Schaefer. Eine Strecke mit allen Abschüssen komme aus hygienischen Gründen nicht mehr infrage. Die Zahl der Hornbläser hat sich mit Ende des Regens verdoppelt. Vor dem „Verblasen der Strecke“ wird das erlegte Wild mit einem Moment der Stille und ernster Miene geehrt – und dann die erfolgreichen Schützen, darunter auch eine Frau. Mit einem kleinen Tannenzweig wird ihnen für die waidgerechte Jagd gedankt.
Forstladen: hessen-forst.de