Fund der Mauern bewegt die Menschen
von Jörg-Peter Schmidt
Am 10. November 1938 zerstörten die Nationalsozialisten die gegenüber dem Stadttheater gelegene Synagoge in Gießen durch heftiges Feuer. Seit kurzer Zeit ist das historische Bauwerk – zumindest symbolisch – wieder auferstanden: Denn die Mauern des Kellers wurden ausgegraben. Hierüber kann sich die Bevölkerung an Ort und Stelle bei Führungen informieren.
Man kämpft mit den Gefühlen
Bereits bei den ersten zwei Führungen vor einigen Tagen war das Interesse der Bevölkerung groß. Mehr als rund 120 Menschen aus Gießen und Umgebung schauten sich die Mauern an, die in einem soliden Zustand sind. Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher und der städtische Archäologe Björn Keiner berichteten über die Historie und den aktuellen Stand der Dinge. Viele der Bürgerinnen und Bürger, die sich am Standort des ehemaligen zwischen 1865 und 1867 errichteten und 1892 erweiterten imposanten Gebäudes eingefunden hatten, kämpften mit ihren Gefühlen. Das war deutlich zu merken.
Einerseits nimmt man es als positiv auf, dass es doch noch erhaltene Reste der Synagoge, die rund 500 Menschen Platz bot, gibt, sozusagen als Mahnmal gegen das Vergessen. Wenn man aber direkt vor diesem so geschichtlich bedeutsamen Grundstück steht, wird einem um so bewusster, was die Nationalsozialisten an diesem denkwürdigen Tag 1938 an Verbrechen gegen die Menschlichkeit angerichtet hatten
Furchtbares Unrecht ist geschehen
Sie ließen auch in Gießen die Versammlungs- und Gebetstätten der jüdischen Bevölkerung einschließlich ihrer darin befindlichen Kulturgüter verbrennen. In Gießen betraf dies die Synagogen in der heutigen Südanlage und in der Steinstraße. Auch im jetzigen Gießener Stadtteil Wieseck gab es eine jüdische Gemeinde, deren Synagoge (sie wurde später ein Wohnhaus) zwar nicht zerstört wurde. Aber aus ihr wurden wichtige religiöse Gegenstände geraubt. Zudem wurden auch in Oberhessen Geschäfte der jüdischen Bevölkerung beschädigt oder ganz zerstört. Es gab Verhaftungen und nach und nach Deportationen, Erniedrigungen, körperliche und seelische Misshandlungen sowie Ermordungen. Mahntafeln auch in Gießen erinnern an die Schicksale dieser Menschen, denen so viel Unrecht geschehen ist.
Synagoge stand an einem zentralen Ort
Am Beispiel der Synagoge am damaligen Hindeburgwall (jetzt Südanlage) kann man nachvollziehen, wie bedeutsam das Leben und Wirken der jüdischen Gemeinden im öffentlichen Leben der Stadt war. OB Becher wies darauf hin, dass die Synagoge der liberalen jüdischen Gemeinde sehr zentral gelegen war: mitten in der Innenstadt, direkt gegenüber dem Stadttheater. Becher und auch Björn Keiner versicherten, dass diese Stätte der Erinnerung erhalten bleiben soll. In welcher Weise dies geschieht, müsse noch geklärt werden. In die Entscheidungsfindung werden beispielsweise die Jüdische Gemeinde, das Landesamt für Denkmalpflege, die Stadt Gießen, die kommunalen Gremien und weitere verschiedene Behörden und Fachleute einbezogen. Der Denkmalschutz muss berücksichtigt werden.
Selbstverständlich verfolgt man bei der Stadt Gießen sehr genau, welche Vorschläge aus der Bevölkerung kommen. Es wird viel und sehr ernsthaft diskutiert: Soll eine Kuppel über den Mauerresten entstehen? Auch wird eine Glaskonstruktion vorgeschlagen. Über virtuelle Lösungen oder eine symbolische Fassade wird gesprochen.
Erhaltenswerte historische Stätte
Fest steht, wie Björn Keiner unterstrich, dass bei Umbauarbeiten der Kongresshalle die Tatsache, dass es in der Nähe des Haupteingangs eine erhaltenswerte historische Stätte gibt, Berücksichtigung finden wird. Er informierte darüber, dass noch Reste von Gebetbüchern und Ledereinfassungen in hebräischer Schrift geborgen werden konnten. Sie sind in der Restaurationswerkstatt des Landesamtes für Denkmalpflege in Wiesbaden untergebracht.
Delegation aus Netanya besichtigte Fundstelle
Am 12. März wird wohl die Resonanz bei den Besichtigungen der sonst abgesperrten Mauern, die von der Stadthallen GmbH initiierte Grabungsfirma geborgen wurden, wieder groß sein. Auch überregional ist das Interesse groß: Eine Lehrerdelegation aus Netanya (Israel) war in Gießen und hat die Fundstelle besucht. Die Gießener Ricarda-Huch-Schule und die Eldad-High-School aus der Gießener Partnerstadt sind befreundet. Überhaupt kann man davon ausgehen, dass Schulklassen die historische Stätte vor der Kongresshalle besichtigen werden. Insofern ist die Fundstelle bereits jetzt ein symbolisches Mahnmal gegen die nationalsozialistischen Verbrechen.
Titelbild: Stadtarchäologe Björn Keiner bei seinen Erläuterungen an der Fundstelle der historischen Mauern. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)