Russland

Machthungriges Regime

Von Michael Schlag

Michael Thumann, langjähriger Moskau-Korrespondent der „Zeit“, erklärt den russischen Machthunger. „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“ heißt sein aufschlussreiches Buch.

Blanker Imperialismus

Man will es doch einfach nur begreifen: Warum überzieht ein europäisches Land seinen Nachbarn mit Krieg? Warum gerät ein Land in seiner Zerstörungswut so völlig außer sich und warum ist sein autoritärer Herrscher nicht mehr rational zu erreichen? Und natürlich auch: Welche Rolle hat Deutschland gespielt, seit 2000, als Putin zum ersten Mal Präsident von Russland wurde, und mehr noch seit 2012, dem Beginn seiner zweiten Präsidentschaft. Kenntnisreiche und plausible Antworten gibt das in diesem Jahr erschienene Buch „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“ von Michael Thumann, langjähriger Moskau-Korrespondent der „Zeit“. Nach 270 Seiten sieht man tatsächlich klarer – und die dabei gewonnene Erkenntnis ist grauenhaft. Der russische Angriff auf die Ukraine ist blanker Imperialismus, nicht anders als beim Zarenreich und nicht anders als zu Machtzeiten der KPdSU, nur ohne Stalin. Der Zerfall der Sowjetunion gilt den russischen Machthabern nicht als Befreiung, sondern als Katastrophe; man arbeitet daran, sie rückgängig zu machen.

Das Buch startet aber nicht gleich mit dem aktuellen Regime, sondern gibt zunächst eine gründliche Nachhilfestunde zu einem Jahrhundert deutsch-russischer Geschichte. Es schlägt sehr weite Bögen – und auf einmal wird alles plausibel. Was zum Beispiel hat der Vertrag von Rapallo 1922 mit dem Beschluss zum Bau von Nord-Stream-II im Jahr 2015 zu tun? In beiden Fällen setzte sich Deutschland über alle Warnungen hinweg und stellte seine speziellen Beziehungen zu Russland bzw. zur Sowjetunion vor die Interessen von allen anderen europäischen Ländern. Selbst 2015 noch, nach der russischen Annexion der Krim, als die Länder Ostmitteleuropas vor der geopolitischen Abhängigkeit durch Nord-Stream-II warnten. Damals wir heute waren es die „Träume von einem Wirtschaftsbündnis jenseits des Westens“, schreibt Thumann – die speziellen Beziehungen zu Russland als Gegenpol zum Wall-Street-Kapitalismus. Für allzeit sichere und günstige Energieversorgung lohnte sich ein jahrelanges Wegschauen zum eigenen Vorteil, während dessen Russland unübersehbar zur Diktatur wurde – repressiv im Innern, aggressiv nach außen.

Die Mehrheit unterstützt Putin bereitwillig

Das Buch schildert all das enorm detailreich, voller Anekdoten, gut geschrieben und spannend zu lesen. Historisch eingenordet geht es dann in die aktuelle Politik. Und wer heute meint, der Krieg Russlands gegen die Ukraine müsse doch nun auch mal zum Ende kommen, lernt bald: “Wir befinden uns erst am Anfang.“ Denn hier findet ein Rachefeldzug statt, für jene Entwicklung, die mit dem Putsch gegen Gorbatschow 1991 begann, dem Zerfall der Sowjetunion und der Präsidentschaft von Boris Jelzin in Russland. Thumann schildert den dramatischen Ablauf des Putsches, Gorbatschow auf der Krim, Jelzin auf dem Panzer in Moskau und schließlich das Scheitern des vom KGB angetriebenen Putsches. Was das Buch durchgehend auszeichnet: Es lebt von persönlichen Erlebnissen des Korrespondenten, der sich übrigens mit dem Fahrrad durch Moskau bewegt. Thumann nimmt seine Leser mit zu den Menschen, hinein ins direkte Gespräch mit Freunden, Nachbarn und Bekannten, die über die Jelzin-Jahre nach 1991 zum Beispiel sagen: „Ich konnte plötzlich reisen, wohin ich wollte, lernen, was ich wollte, arbeiten, wo ich wollte, auch leben, wo ich wollte.“ Zum ersten Mal erlebten die Menschen Freiheit, aber vor Allem: „Die Angst war verschwunden“. Diese Freiheiten hielten aber nur ein Jahrzehnt, die alte Machtelite hatte ihr Ziel keineswegs aufgegeben, die verhasste Perestroika wieder zu beenden und „heute wird Russland ganz im Geiste der Putschisten regiert.“

Aber wie konnte Putin nur zwanzig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion – spätestens mit Beginn der zweiten Präsidentschaft 2012 – wieder ein autoritäres Regime errichten? Thumann redet nie drum herum: „Weil die große Mehrheit der Russen ihn dabei bereitwillig unterstützte“. Und wo waren wir die ganze Zeit? Wir haben gute Zeitungen gelesen, gutes Radio gehört und uns zu den politisch Informierten gezählt. Hatten wir denn geglaubt, die Ermordung von Oppositionellen und Journalisten gehöre irgendwie zur russischen Folklore? Die Zerstörung der russischen Zivilgesellschaft, das Verbot der historischen Gesellschaft Memorial, hatten wir denn angenommen, der Friedensnobelpreis könne jemanden in Russland schützen? Die Proteste gegen die Inhaftierung von Alexej Nawalny im Januar 2021 sollten schließlich die letzten freien Demonstrationen in Russland gewesen sein, schreibt Thumann, innerhalb von vier Monaten wurden 13.000 Menschen verhaftet. Es war „die innere Mobilmachung für den Krieg nach außen.“ Heute sei der öffentliche Raum in Russland toxisch geworden, festgenommen wird schon, wer ein leeres Schild hochhält.

Denunziation wurde ein neuer Volkssport

Für Deutschland begann die „Zeitenwende“ am 24. Februar 2022, für die Bürger in Russland begann sie erst ein gutes halbes Jahr später, mit der Mobilmachung und Einberufung tausender junger Männer am 21. September, erst damit griff der Krieg auch nach den russischen Familien. Bis dahin ging das Leben in Moskau ungetrübt weiter. Sommer 2022. Thumann beschreibt eine ausgelassene Volksfeststimmung im Gorki-Park. Keine 200 Meter entfernt von den Tanzenden, im russischen Verteidigungsministerium auf der anderen Seite des Moskau-Flusses „wurden in jenen Tagen die Befehle ausgegeben, die ukrainische Stadt Lyssytschansk in einem Feuersturm niederzuwalzen“. Und abends, nach der Heimfahrt mit dem Fahrrad zu seiner Wohnung, eine Begegnung mit seiner Nachbarin. Sie hat gerade die Nachrichten im staatlichen Fernsehen gesehen und meint, „es ist gut, dass jetzt aufgeräumt wir mit diesen Nazis“. Das Gespräch geht dann völlig aneinander vorbei bis zur Bemerkung: „Dieser Biden muss aufpassen, dass er keine Atomrakete abkriegt.“ Zwei Seiten Moskaus innerhalb von einer Stunde, schreibt Thumann, „unter dem Firnis der Friedlichkeit schoss ganz plötzlich eine verbiesterte Aggressivität hervor.“

Denunziation wurde im Sommer 2022 ein neuer Volkssport, „es häuften sich erschütternde Meldungen in den Lokalnachrichten“: Ein Schüler nimmt die Kritik seiner Englischlehrerin am Ukrainekrieg mit dem Handy auf und geht damit zur Polizei – 500 € Strafe. Eine Moskauerin denunziert ihren Ehemann, weil er den ukrainischen Widerstand unterstützen will. Eine Mutter verrät ihren Sohn an die Sicherheitsdienste, weil dieser sich vor dem Militärdienst drücken wolle. Ein Ehemann zeigt seine Frau an, weil sie sich regierungskritisch äußert und damit ihr gemeinsames Kind beeinflusst.

Es kommt keine Hoffnung

Noch einmal mit dem Korrespondenten auf dem Fahrrad durch Moskau. Eine kleine Stele, vom Auto aus kaum wahrzunehmen, ein Gedenkstein an drei russische Demonstranten, die 1991 von einem Panzen überrollt wurden. Im Oktober 2022 bekommt die russische Armee im Ukrainekrieg einen neuen Oberkommandierenden, General Sergej Surowikin, ausgezeichnet als Held der Russischen Föderation für den Militäreinsatz in Syrien. Michael Thumann weiß mehr über den General: „Er hatte sich schon mit 24 Jahren einen Namen gemacht, als er jenen Panzer kommandierte, der beim Putschversuch 1991 drei Demonstranten im Moskauer Arbat-Viertel einfach überrollte“ – jene drei, an die die kleine Gedenkstele erinnert, die aber mittlerweile fast zugebaut sei.

Putin hat Russland von Europa abgeschottet wie kein russischer Führer vor ihm, schreibt Thumann, man solle aufhören anzunehmen, er ließe sich durch Maßnahmen von außen irgendwie beeinflussen. Man nähert sich dem Ende des Buches und mit jeder weiteren Seite sehnt man herbei, es müsse doch etwas Hoffnungsvolles passieren, aus der eigenen Geschichte haben wir doch erfahren, dass alles gut werden kann. Aber es kommt keine Hoffnung, es wird alles immer noch schlimmer, bis zur Frage am Ende, wird Putin Atomwaffen einsetzen? Ja, selbst das solle man nicht ausschließen, und zwar dann, wenn er seine eigene Macht bedroht sieht.

Michael Thumann: „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“, ISBN 978-3-406-79935-8, Hardcover 25 Euro€, E-Book 18,99 Euro

Leseprobe: beckassets.blob

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