Die Geschichte des Geisterzugs
Im Internierungslager Le Vernet d’Ariège in Südfrankreich startet Ende Juni 1944 ein Zug vollgestopft über 700 mit politischen Gefangenen, die meisten krank, verkrüppelt und alt. Es war einer der letzten Transporte ins KZ Dachau. 536 kommen an. Etliche sterben, einigen gelingt die Flucht. Gerhard Bökel hat die Geschichte des Geisterzuges geschrieben. Es ist ein Buch über Verbrechen und Widerstand und auch über die deutsch-französische Aussöhnung geworden.
Erinnerung an unsägliches Leid
Gerhard Bökel nimmt seine Leser mit auf seine Recherchen in Frankreich, zu seinen Gesprächen mit Zeitzeugen. Zufällig hatte er im Sommer 2010 in Roquemaure an der Rhone an den Überresten einer zerstörten Brücke eine Gedenktafel für die Opfer des Transportes entdeckt. Weil der Zug wegen der zerstörten Brücke nicht weiterfahren konnte, mussten die über 700 Gefangenen bei glühender Hitze durch die Weinberge nach Sorgues marschieren. „Schnell hatte mich das Thema gepackt, und ich wollte einen kleinen Beitrag leisten, um die Erinnerung an das unsägliche Leid der Opfer dieses Zuges und die unfassbare Grausamkeit von Tätern und Kollaborateuren wachzuhalten“, schreibt der Autor. Es ist ein packendes Buch entstanden, das all das Leid der Internierten, aber auch ihren Widerstand und ihre Hoffnung eindringlich schildert.
Im Lager Le Vernet d‘Ariège waren seit 1939 Intellektuelle, Kulturschaffende und Politiker aus ganz Europa eingesperrt. Der Ungar Arthur Koestler, der Spanier Max Aub, der deutsche Schriftsteller Rudolf Leonhard saßen hier ebenso ein wie Luigio Longo, der später Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens werden sollte, oder Heinrich Rau, später Wirtschaftsminister der DDR. Schon 1939 bildete sich im Untergrund eine Lagerleitung unter Kommunistischer Führung. Einer ihrer Sprecher war der führende deutsche Kommunist Franz Dahlem, Mitglied der Komintern und einer der Stabschefs der Internationalen Brigaden, die in Spanien erfolglos gegen den faschistischen Putsch gekämpft hatten.
Pferde 8, Männer 40
Nachdem die Alliierten Anfang Juni 1944 in der Normandie gelandet waren, wurde das Lager aufgelöst. Am 30. Juni wurden die letzten Gefangenen auf Lastwagen und in Bussen nach Toulouse gebracht. Dort wurden sie in einen bereitstehenden Zug gezwängt, „in Vieh und Güterwaggons, die schon beim Truppentransport eingesetzt worden sind. An ihnen sind Tafeln angebracht mit der Beschriftung: Pferde 8, Männer 40. In jeden Waggon werden schließlich 65 bis 70 Gefangene zusammengepfercht. Die Hitze ist
unerträglich – jeder Waggon verfügt nur über vier kleine Öffnungen, 40 mal 60 Zentimeter, zwei auf jeder Seite, mit Brettern und Stacheldraht vernagelt“, beschreibt Bökel. Es beginnt eine acht Wochen währende grausame Reise durch Kampfgebiete, immer wieder unterbrochen durch Zwangsaufenthalte – einmal werden die Gefangene in Bordeaux in die Synagoge gesperrt – und den Marsch durch die Weinfelder von Chatreauneuf-du-Pape. Bökel beschreibt fast jeden Tag der Odyssee. Den 12. Juli 1944, den Tag, als die Gefangenen in die Synagoge in Bordeaux getrieben werden, schildert er so: „Offenbar haben die Deutschen noch immer technische oder logistische Probleme mit der Weiterfahrt. Unsicherheit macht sich breit. Was werden die Nazis tun? In der Nacht, gegen halb drei, treiben Gendarmen, Polizisten und Gestapo-Leute die Gefangenen schließlich auf dem Bahnsteig zusammen. Mit Maschinengewehren, Pistolen und Handgranaten bis an die Zähne bewaffnet, lassen sie sie antreten. Es herrscht gespenstische Stille auf dem Bahnhof, unterbrochen von den schreienden Feldgendarmen: Abmarsch. Viele Gefangene müssen das Gepäck ihrer Peiniger mitschleppen, auch die Frauen an der Spitze des Konvois. Sie werden immer wieder angetrieben – schneller, schneller sollen sie gehen, um den neuen Ort der Gefangenschaft zu erreichen – die Synagoge von Bordeaux.“
Einigen können flüchten
Von den über 700 Gefangenen im Geisterzug kommen schließlich 536 in Dachau an, 473 Männer und 63 Frauen „Die Buchführung der Nazis klappt“, merkt Bökel lakonisch an. Einige konnten flüchten. „In mehreren Wagen gelingt es, Bodenbretter zu lösen, in anderen wird versucht, eine Trennwand oder eine Tür auszuhebeln. Diejenigen, die gewillt und in der körperlichen Verfassung sind, zu flüchten, haben in den einzelnen Wagen festgelegt, in welcher Reihenfolge die Flucht gewagt wird – in einem Wagen orientieren sie sich an der Schwere der Vorwürfe des Feindes“, schreibt Bökel.
Mit Robert Audion, einer von denen, denen die Flucht gelungen war, hat sich Bökel im Frühjahr 2015 getroffen, kurz vor dessen Tod. Audion hat ihm seine spannende Lebensgeschichte erzählt und Bökel erzählt sie in seinem Buch nach. Internierung und Flucht sind eine prägende Episode. Audion über die Fahrt im Geisterzug: „Für unsere natürlichen Bedürfnisse benutzten wir eine Konservendose und leerten sie unterhalb der Tür aus. Dieser Gestank, vermischt mit dem Geruch unserer verschwitzen Körper, war einfach schrecklich.“ Als er nach gelungener Flucht Ende August 1944 in sein Heimatdorf Veuil zurückkehrt, erfährt er, dass eine deutsche Kolonne mit etwa 60 Fahrzeugen auf dem Rückzug durch Veuil acht Menschen getötet und zwei Häuser in Brand gesetzt hatte, „darunter das meiner Eltern“, so Audion.
Schwierige Aussöhnung
Bökel beschreibt in den letzten beiden Kapiteln des Buches die schwierige deutsch-französische Aussöhnung nach dem Krieg. Das mittelhessische Wettenberg ist seit 1972 mit Sorgues verschwistert, Schauplatz wo des Marsches der Geisterzug-Insassen durch die Weinberge. Norbert Schmidt vom Verschwisterungsverein hatte im Frühjahr 1992 bei einem Besuch in Sorgues im Bücherregal seiner Gastgeber das Buch „Le Train fantome – Toulouse, Bordeaux, Sorgues“ entdeckt. Bökel: „Im Vorstand des Verschwisterungsvereins war man sich schnell einig, dass man mehr über den Widerstand, die Resistance, wissen wollte.“
Zuerst hatte sich die Kreisstadt Wetzlar um eine Partnerschaft mit Avignon bemüht. Doch der Bürgermeister der französischen Stadt war skeptisch. Es war Edouard Daladier, der frühere französische Regierungschef, der nach dem Angriff auf Polen Deutschland den Krieg erklärt hatte und der unter anderem in KZ Buchenwald interniert worden war. Bökel erzählt auch Daladiers Lebensgeschichte und eine gewisse Faszination schimmert durch. Bökel war selbst Politiker. Der Sozialdemokrat war ab 1978 Landtagsabgeordneter für den Kreis Wetzlar und ab 1985 Landrat des Lahn-Dill-Kreises. Von 1994 bis 1999 war er Hessischer Innenminister. Noch unter Daladier als Bürgermeister kam es zur Verschwisterung zwischen Wetzlar und Avignon. Krofdorf-Gleiberg, das später Teil von Wettenberg wurde, wurde als Partnerort von Sorgues auserkoren. Der Grundstein für die Aussöhnung war gelegt – und auch dafür, die Geschichte des Geisterzuges zu erforschen.
Gerhard Bökel: Der Geisterzug und die Résistance, Verlag Brandes & Apsel, 272 Seiten, Paperback, Großoktav mit Fadenheftung (15,5 mal 23,5 Zentimeter), 29,90 Euro, ISBN 978-3-95558-190-9