Nahostkonflikt

Wie der arabisch-israelische Krieg begann

Von Michael Schlag

Man könnte verzweifeln über Gaza, Israel, das Westjordanland, den Libanon – so lange ich lebe ist dort Krieg. Allenfalls einmal unterbrochen von Verhandlungen und Abkommen, nichts davon hat je gehalten und heute ist es für die Menschen dort so schlimm wie nie. Vielleicht wird man etwas mehr verstehen, wenn man zurück geht zu den Anfängen, zur Gründung des Staates Israel, zum Beginn des Nahostkonfliktes. Das Buch „1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg“ von Benny Morris trägt alles zusammen: der Bürgerkrieg, die Vertreibung, die Gefechte, die Terroranschläge, die Toten ohne Zahl.

Eine sichere Heimat gesucht

Und es erklärt zunächst ausführlich die Vorgeschichte. Denn der Konflikt begann nicht erst 1948, die Entstehung liegt viel weiter zurück, die ersten 50 Seiten des Buches handeln davon. Benny Morris, emeritierter Professor der Geschichte an der Ben-Gurion-Universität des Negev, schreibt: „Der Krieg von 1948 war das nahezu unvermeidliche Resultat von über einem halben Jahrhundert arabisch-jüdischer Zusammenstöße und Konflikte.“ An deren Anfang stand die jüdische Einwanderung in den 1880er Jahren, in Pogromen Verfolgte und Vertriebene aus Russland, die in Palästina – für sie Eretz Israel (das Land Israel) – eine sichere Heimat suchten. Palästina gehörte damals zum Osmanischen Reich, hier lebten etwa 450.000 Araber und 25.000 Juden.

Ende 1917 eroberten die Briten die südliche Hälfte des Landes, einschließlich Jerusalem. Als Wendepunkt gilt die sogenannte Balfour-Erklärung des britischen Außenministers im selben Jahr: „Die Regierung Seiner Majestät betrachtet die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen“. Der Historiker Morris beurteilt es so: „Zweifellos hatten die Briten den Willen der arabischen Einwohner Palästinas ignoriert“. Mit dem Entstehen einer palästinensisch-arabischen Nationalbewegung und der bewaffneten Miliz Haganah auf der anderen Seite begannen 1920 die arabisch-jüdischen Zusammenstöße im jetzt britischen Mandatsgebiet. Die gewaltsamen Ausschreitungen gegen die jüdischen Einwanderer mit vielen Toten weiteten sich aus; 1921, 1929, der arabische Aufstand 1936 bis 1939. Bis zu diesem Jahr war die jüdische Bevölkerung in Palästina auf 460.000 angewachsen, der arabische Anteil an der Bevölkerung von 82 Prozent auf unter 70 Prozent gesunken.

Die Teilungsresolution der Vereinten Nationen

Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust führten dann „zu der entscheidenden internationalen Ermächtigung, der Teilungsresolution der Vereinten Nationen vom 29. November 1947, die die Grundlage für die Entstehung des Staates Israel bilden sollte.“ Bereits im August 1945, auf der Konferenz in Potsdam, sprach sich der amerikanische Präsident Truman grundsätzlich für die Umsiedlung der Überlebenden des Holocaust, der jüdischen Displaced Persons (DPs), nach Palästina aus. In demselben Jahr aber forderten sieben arabische Länder in Kairo den Stopp der jüdischen Einwanderung. Sie sahen Palästina als Teil der arabischen Welt, die Rechte der dort lebenden Araber dürften nicht angetastet werden. Der Eindruck beim Lesen des Buches 1948 bis dahin: Musste denn damals nicht jedem klar sein, dass die Teilung von Palästina mit Staatsgründung von Israel zu einem ewigen Krieg führen würde? Aber hier die andere Seite in Deutschland und Europa: Hunderttausende von Holocaust-Überlebenden, „die verzweifelt versuchten, ihr Leben abseits der Stätten des Todes neu aufzubauen“ und zwar in Palästina, dem einzigen sicheren Ort, den sie nach dem Grauen der zurückliegenden Jahre finden würden.

Die Briten versuchten, die jüdische Einwanderung zu verhindern, auch gewaltsam, weil sie erneute arabische Aufstände befürchteten. Dennoch landeten zwischen August 1945 und Mai 1948 etwa 70.000 illegale Immigranten an den Küsten Palästinas. Der Konflikt ging da längst über Palästina hinaus. Im November 1945, so schreibt es Morris, randalierten arabische Mobs im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika, brannten jüdische Geschäfte, Häuser und Synagogen in Alexandria, im von Großbritannien verwalteten Tripolitanien (Libyen) wurden etwa 100 Juden ermordet. Und dann wechselte die Sowjetunion in dem Konflikt die Seiten, zum Erstaunen der westlichen und zionistischen Beobachter. Bislang pro-arabisch und anti-britisch eingestellt, bekräftigte der damals stellvertretende sowjetische Außenminister Andrej Gromyko vor der UN-Generalversammlung im Mai 1947 das Recht der Juden auf Selbstbestimmung und schlug vor, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat aufzuteilen. Doch, wie ein palästinensischer Historiker später formulierte, „sahen die Palästinenser nicht ein, warum sie für den Holocaust bezahlen sollten“.

Enorme Auswirkung des Holocaust

In der Teilungsresolution der Generalversammlung vom 29. November 1947 sollte der künftige jüdische Staat dann 55 Prozent Palästinas umfassen, mit einer Bevölkerung von etwa einer halben Million Juden und einer arabischen Minderheit von etwa 450.000. Die arabischen Länder drohten mit Krieg, falls die Versammlung der Teilung zustimmte, aber „die Araber hatten die enormen Auswirkungen des Holocaust auf die internationale Gemeinschaft nicht verstanden“, schreibt Morris. Die Teilung Palästinas wurde mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Und damit begannen die „Ereignisse, die im Gefolge des Holocaust einem Volk eine souveräne Heimat gaben und ein anderes enteigneten.“

Am selben Tag begann der Bürgerkrieg, später gefolgt von der Invasion der arabischen Nachbarstaaten. Er hat drei Namen: Die arabische Welt nennt ihn „Erster Palästinakrieg“, die Israelis nennen ihn „Unabhängigkeitskrieg“, die Palästinenser selber nennen ihn „Die Katastrophe“ (al-nakba). Morris beschreibt ihn so: „Innerhalb von 24 Stunden nach Beginn der (noch verhaltenen) Kämpfe begannen arabische Familien, ihre Häuser in gemischten oder Grenzvierteln in den Großstädten zu verlassen“. 75.000 bis 100.000 Araber flohen oder wurden aus ihren Häusern vertrieben, es war die erste Welle des Exodus.

Brutaler Bürgerkrieg

Der Bürgerkrieg wurde mit großer Brutalität geführt, eigentlich war es eine Abfolge von wechselseitigen Terrorangriffen auf die andere Bevölkerungsgruppe. Fünfzig Mal liest man in dem Buch das Wort „Massaker“: Dörfer und Stadtviertel überfallen, die Häuser zerstört, die Menschen ermordet, die fürchterlichen Kämpfe in der Stadt Haifa. Sieht man heute mit Entsetzen auf den Hamas-Überfall von 7. Oktober 2023, lernt man bei der Lektüre von „1948“: Das gab es in diesem Jahr fortlaufend und von beiden Seiten. Wobei die Opferzahlen der schlecht organisierten arabischen Seite viel höher waren und die israelische Seite dank internationaler Hilfe wesentlich besser ausgerüstet war.

Woher bekamen sie ihre Waffen? Es gab die eigene Produktion in geheimen Werkstätten, aber ein wesentlicher Teil kam, bezahlt mit westlichem Geld, aus der Tschechoslowakei. Hier eine Beschreibung: „Die erste Ladung – 200 Gewehre, 40 MG-34-Maschinengewehre und 160 000 Patronen – landete in der Nacht vom 31. März zum 1. April (1948) heimlich mit einem gecharterten amerikanischen Skymaster-Frachtflugzeug auf einem behelfsmäßigen Flugplatz in Beit Daras.“

Bis Ende 1951 nahm Israel weitere 700.000 jüdische Einwanderer auf. Während 400.000 Araber im Hochsommer 1948 aus dem Land flüchteten oder vertrieben wurden. Ein Jahr später, im Dezember 1949, wurde das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) gegründet, es besteht bis heute. Am 28. Juli 1948 beschloss das britische Kabinett, eine endgültige Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblems könne erst als Teil einer allgemeinen Regelung erreicht werden, wenn der Frieden kommt. Benny Morris schreibt dazu: „Doch der Frieden kam nie – und die Flüchtlinge kehrten nie zurück.“

Was bleibt dem Leser am Ende des Buchs? Man hat Vieles erfahren, von dem man keine Ahnung hatte, hat manche Zusammenhänge besser begriffen, auch Verständnis gewonnen für die Zeit und für beide Seiten – doch der ersehnten friedlichen Lösung ist man keinen Millimeter nähergekommen.

Benny Morris: „1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg“, Hentrich & Hentrich Verlag Berlin Leipzig, Herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Bildung, 1. Auflage 2023, ISBN 978-3-95565-609-6, 646 Seiten, 32 Euro

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