Mobiles KZ

Halbnackt zwischen verbogenen Schienen

Von Klaus Nissen und Petra Ihm-Fahle

Mindestens eine Woche lang lebten rund 500 KZ-Häftlinge im März 1945 auf dem Bad Nauheimer Güterbahnhof. Sie bildeten die „Baubrigade 12“ und sollten mit völlig untauglichen Mitteln den zerbombten Friedberger Rangierbahnhof reparieren. Das fand der Historiker Bernd Vorlaeufer-Germer heraus.

Mobiles Konzentrationslager

Ein Aufräumkommando der Baubrigade 12 beim aussichtslosen Unterfangen, den Friedberger Rangierbahnhof wieder herzustellen. Foto: Stadtarchiv Friedberg

Chaos und Vernichtung brachten die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges in die Wetterau. Die Kreisstadt Friedberg wurde seit dem 20. Juli 1944 achtmal bombardiert, berichtet der Bad Homburger Historiker Bernd Vorlaeufer-Germer. Altstadt-Häuser wurden getroffen, vor allem aber der große Rangierbahnhof.  Am 22. Januar 1945 attackierte ein Dutzend „Thunderbolt“-Jagdbomber den Rangierbahnhof und seine Nachbarschaft mit Bomben. Zerstört wurde ein Wasserturm, ein Maschinenhaus der Zuckerfabrik. Das Kaufhaus Langer an der Hanauer Straße erhielt einen Volltreffer – es brannte aus. Nach dem Angriff waren sechs Soldaten, acht Zivilisten und vier ausländische Arbeiter tot.

Allein am 21. Februar 1945 heulten sechsmal die Sirenen, schrieb der Feuerwehr-Hauptmann Rust in seinem Tagebuch, das Vorlaeufer-Germer im Friedberger Stadtarchiv entteckte. Am 22. Februar warfen etwa 35 alliierte Bomber ihre Sprengladungen über Friedberg ab. Innerhalb 20 Minuten zerstörten sie die Gleise der nach Frankfurt , Kassel und Bad Homburg. Das Stellwerk wurde komplett zerstört, die nebenan liegende Zuckerfabrik geriet in Brand. 22 Menschen wurden bei diesem Angriff obdachlos, zwölf Friedberger verletzten sich.

Die Räder mussten aber wieder rollen. „Die Bahn hatte eine wichtige Transportfunktion für die Kriegsmaschinerie“, sagte Bernd Vorlaeufer-Germer bei seinem Vortrag in der Friedberger Volkshochschule. Auch noch 1945 wurden im Hasselborner Eisenbahntunnel im Taunus Propeller für Jagdflugzeuge hergestellt, die mit der Bahn über Friedberg an die Front geliefert werden sollten.

Blick über die zerbombte Große Köhlergasse zur Stadtkirche (Stadtarchiv Friedberg)

In mühsamen Archivrecherchen hat der pensionierte Gewerkschaftssekretär Vorlaeufer-Germer herausgefunden, wie der NS-Staat mit allen Mittel versuchte, den Krieg weiter zu führen. Am Weihnachtstag 1944 rekrutierte die SS dafür rund 500 Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Oranienburg nördlich von Berlin. Sie bildeten die SS-Baubrigade 12, die gleich danach auf eine Odyssee durch das verwüstete Reichsgebiet ging.  Man verfrachtete  die entkräfteten Häftlinge aus Deutschland, Österreich, Polen, Frankreich, Russland und Italien auf einen Güterzug mit etwa 45 Waggons. Je 24 dieser Zwangsarbeiter mussten in einem Waggon schlafen, bewacht von einem Dutzend SS-Männer und mindestens 40 weiteren Bewachern, die sich mit Eisenbahntechnik auskannten. Vorn  und hinten am Güterzug fuhren flache Waggons mit Flakgeschützen über die Jahreswende nach Westen. Im Januar kam das mobile Konzentrationslager im mittleren Rheintal an, fand Bernd Vorlaeufer-Germer aus den Berichten der SS heraus. Dort verliefen beidseits des Rheins wichtige Schienenstränge. Bei den mühsamen Reparaturen wurden im Februar 156 Häftlinge arbeitsunfähig. Man schickte sie nach Bergen-Belsen oder Sachsenhausen. Aus dem Konzentrationslager ersetzte man sie mit 200 „arischen Ostländern“. Von denen fand Bernd Vorlaeufer-Germer die Karteikarten mit Nahmen und Herkunft. Einige kamen aus dem Konzentrationslager Groß-Rosen bei Breslau, 66 Bau-Brigadisten wurden aus dem Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar requiriert.

Verbogene Gleise prägten den Friedberger Bahnhof am Kriegsende. Im Hintertgrund die unversehrt gebliebene Stadtkirche. Foto: Stadtarchiv Friedberg
Ein Baubrigaden-Häftling. Die Männer wurden aus Konzentrationslagern geholt, um schwerste Arbeit zu leisten. Wer das Foto machte, ist unbekannt.

Wahrscheinlich in der ersten Märzwoche wurde der Häftlingszug über Mainz und Frankfurt in die Wetterau dirigiert. Mindestens eine Woche lang stand der Zug auf dem Bad Nauheimer Güterbahnhof, der sich damals bis ins heutige Gewerbegebiet am Langen Morgen erstreckte. Von dort aus wurden die Häftlinge zu Arbeitseinsätzen nach Friedberg eskortiert, um den völlig zerstörten Rangierbahnhof notdürftig zu reparieren. Alte Archivfotos zeigen spärlich bekleidete Arbeiter, die nahezu ohne Werkzeug inmitten der verbogenen Gleise schufteten. Schon vor drei Jahren konnte der Bad Nauheimer Bernhard Lentz eine Erinnerung zu den Forschungen von Bernd Vorlaeufer-Germer beisteuern: „Mein Onkel Otto Lentz besaß eine Kohlenhandlung gegenüber des alten Güterbahnhofs, der an der Stelle des heutigen Toom-Baumarkts im Gewerbegebiet Langer Morgen lag. Wir waren als Kinder oft dort“, erinnert sich der Bad Nauheimer. Als Fünfjähriger spielte er auf dem Gelände, wobei ihm eines Tages merkwürdige Waggons auf einem Abstellgleis auffielen. „Die Züge sahen irgendwie besonders aus, sie waren heller, die Fenster verblendet, so dass man nicht hineinschauen konnte.“ Wachtposten mit Gewehren hätten die Wagen bewacht. Ein- oder zweimal habe er auch Männer mit verblichener, armseliger Kleidung gesehen. Wie er aus damaligen Gesprächen der Erwachsenen aufschnappte, handelte es sich um Gefangene.

Als es zwischendurch auch noch Bombenangriffe gab, nutzten laut den Dienst-Berichten der NS-Schergen 16 Gefangene die Chance zur Flucht. Der Zug-Chef und SS-Oberscharführer Gustav Sorge meldete den Verlust zwar nach Sachsenhausen, doch womöglich konnten manche Geflohenen in  diesen chaotischen Wochen  entkommen. Noch im Laufe des März wurde das mobile Konzentrationslager aus Bad Nauheim abgezogen. Die letzte Station der Baubrigade soll Großen-Buseck bei Gießen gewesen sein. Unklar ist noch, wie viele der Gefangenen den Krieg überlebten. Bernd Vorlaeufer konnte keinen von ihnen mehr persönlich ausfindig machen.

Bernd Vorlaeufer-Germer

Für das Jahr 2018 plant der Historiker vier weitere Vorträge in der Fri9edberger Volkshochschule jeweils ab 18.45 Uhr an der Friedensstraße 18. Am 12. April geht es um das ehemalige Führerhauptquartier „Adlerhorst“ in Langenhain-Ziegenberg. Am 19. April folgt ein Abend über den Hasselborner Tunnel bei Hundstadt im Taunus. Über den Feldflugplatz Merzhausen (der heute eine Satelliten-Relaisstation ist) informiert Vorlaeufer-Germer am 26. April 2018. Das Schloss Kransberg als Außenkommando des Konzentrationslagers Buchenwald und danach als alliiertes Vernehmungszentrum stellt der Historiker am 3. Mai vor.

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