Der Traum des Casimir von Hanau
von Ursula Wöll
Die Diskussion um das berliner Humboldt-Forum bringt es ans Licht: In den Kellern unserer Museen verstauben Tausende von Artefakten, die in der Kolonialzeit geraubt, ‚geschenkt‘ oder ‚gekauft‘ wurden. Die von uns verdrängte deutsche Kolonialepoche gerät endlich in unseren Blick. Sie dauerte zwar ’nur‘ gut 30 Jahre, von etwa 1884 bis 1918. Genug Zeit aber, um ein rassistisches Denken auszubilden, auf dem dann die Nazis aufbauen konnten. Sein Credo: Ein weißer Mensch ist per se höherstehend als ein ‚Neger‘. Damit wurde die koloniale Unterwerfung gerechtfertigt, und so steckt ein Rest tief in uns allen noch immer drin. „Wir Herrenmenschen“ hat denn auch Bartholomäus Grill sein druckfrisches Buch betitelt. Es umkreist nicht nur dieses rassistische Erbe, sondern bietet eine gut lesbare Reise durch die deutsche Kolonialgeschichte. Und die begann eigentlich bereits im Jahr 1669, vor genau 350 Jahren, mit dem Grafen Casimir von Hanau.Prinz Schlaraffenland
Casimir von Hanau, der auch Landesherr von Hanau-Münzenberg war, liebte eine üppig barocke Hofhaltung und wurde von seinen Untertanen deshalb Prinz Schlaraffenland genannt. Entsprechend verschuldet war der Landesherr. Von einer Kolonie am Orinoco, dem heutigen südamerikanischen Surinam, versprach er sich Abhilfe. Er schloss einen Vertrag mit der Niederländisch-Westindien-Kompanie, doch das Projekt scheiterte. Bekannter als dieser frühe Kolonialtraum ist das Projekt des preußischen Großen Kurfürsten von 1683 an der Goldküste, dem heutigen Ghana. Noch jetzt existiert die Feste Großfriedrichsburg auf einer Anhöhe über der Küste. Buchautor Grill, der seit 30 Jahren aus Afrika berichtet, hat sie besucht und auch Reste des unterirdischen Tunnels gesehen. Durch ihn wurden die Eingefangenen an den Strand und in die Sklavenschiffe getrieben. Etwa 20000 bis 30000 Sklaven wurden durch die preußischen Sklavenhändler in die Neue Welt verschifft. Doch im aufblühenden Sklaven- und Welthandel blieb Kurfürst Friedrich Wilhelm nur ein kleiner Fisch im Haifischbecken der großen Handelsmächte. Seine Besitzung an der Goldküste verkaufte er an die Holländer, da sie ihm kaum Gewinn brachte.
Rechtfertigung der Ausbeutung
Erst im 19. Jahrhundert tauchten deutsche Schiffe erneut vor Afrikas Küsten auf, um im Wettlauf mit England und Frankreich mitzutun. Nun handelte man nicht mehr mit Sklaven, sondern man beutete die Länder und ihre Bewohner an Ort und Stelle aus und zerstörte ihre Strukturen. Bäuerliches Land wurde zu Plantagen, die heimische Kultur wurde verachtet und europäische Sitten aufoktroiert. Obwohl Bismarck zunächst dem Kolonialgedanken abgeneigt war, wurden dann die Gebiete von Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo und Deutsch-Südwestafrika sowie die Inseln in der Südsee und das chinesische Kiautschou unter den Schutz des Deutschen Reiches gestellt und ihm als Kolonien einverleibt. Mit brutalen Methoden wurde ausgebeutet, dies aber mit dem Argument verbrämt, dass man den Unterworfenen unsere höhere Zivilisation bringen wolle, ja bringen müsse. Ein Mittel dazu war die Kopfsteuer, die die Einheimischen zwang, auf den Plantagen der Deutschen zu schuften. Wer sich dabei zum Verschnaufen aufrichtete, bekam die Nilpferdpeitsche zu spüren. Die meisten Missionare tolerierten dieses Einprügeln eines Arbeitsethos, schien doch der Einheimische faul und triebgesteuert, dem Tier näher als dem Menschen. Und nur in ganz extremen Fällen, wie im Fall des Carl Peters, erregten die Untaten im ‚Mutterland‘ Aufsehen.
Kolonialen Blick hinterfragen
Aufstände konnten da nicht ausbleiben. Sie wurden mithilfe der Askari-Hilfstruppen und dem Maschinengewehr niedergeworfen. Dörfer, Vieh und Felder wurden als verbrannte Erde zurückgelassen, so dass viele anschließend verhungerten. So forderte etwa der maji-maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika mehrere hunderttausend Opfer. Bekannt ist heute allenfalls der Völkermord an den Herero, von denen 80000 in die Omaheke-Wüste gesperrt wurden, wo man sie bewusst verdursten ließ. Denn Vertreter der Herero fordern bislang vergeblich eine Entschuldigung von Berlin und eine symbolische Reparation. Doch wollen wir überhaupt Genaues über die vor 100 Jahren begangenen Gräuel hören? Wir müssten unseren kolonialen Blick hinterfragen, der die Kulturen noch immer hierarchisiert, auch wenn wir das Wort ‚Neger‘ nicht mehr benutzen. Und läuft neben unserer heimlichen Abwertung nicht auch die materielle Ausbeutung weiter? Die schönen Hölzer unserer Möbel, das Coltan in unseren Smartphones oder die spottbilligen T-Shirts fallen schließlich nicht vom Himmel. Die armen Länder sind nicht allein deshalb so arm, weil sie von korrupten Eliten regiert werden. Sie konnten sich nie wirklich von den kolonialen Verwüstungen erholen.
Bartholomäus Grill schrieb lange für die „Zeit“ und „Spiegel-online“. Als Journalist kann er anschaulich und verständlich darstellen. Er hat die historischen Orte alle besucht.So gibt sein gut gegliedertes Buch nicht nur einen exzellenten Überblick über die deutsche Kolonialzeit. Es hilft auch, unsere überheblichen Ansichten über den Wert unserer eigenen Kultur und Hautfarbe zu überwinden. Das Buch endet mit einem Zitat von Frantz Fanon, dem auf Martinique geborenen Autor des Buches „Die Verdammten dieser Erde“: ‚Ich wollte ein Mensch sein, nichts als ein Mensch.‘
Bartholomäus Grill, Wir Herrenmenschen – Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte, Siedler-Verlag, März 2019, 299 Seiten, 24 Euro