Jena-Paradies

Tod in Stasihaft

Von Michael Schlag

Die Worte lassen einen schaudern. Dabei weiß man als Wessi erst gar nicht so genau, was damit gemeint ist, wohl aber, dass sie nichts Gutes bedeuten können. „Beobachterkollektiv“, „operativ bearbeitet“, „differenzierte Verunsicherung“, „negative Jugendliche“, „Kampfkurs X“ und Vieles mehr in der Art. Am Ende des Buches „Jena-Paradies“ weiß man es sehr genau – es sind die Kürzel der Unterdrückung.

Einfach nur machen, was ich will

Das Buch beschreibt das Leben einer Gruppe junger Leute in Jena Mitte der 1970er / Anfang der 80er Jahre. Mit und mit entsteht beim Lesen ein Gefühl von Zugehörigkeit zu diesem Freundeskreis. Im Mittelpunkt steht Matthias (Matz) Domaschk aus Jena, seine letzten drei Lebenstage, zwei davon in Stasi-Haft, und am Ende sein Tod im Stasi-Gefängnis.

Warum eigentlich wurden die jungen Leute von der Staatsmacht dermaßen drangsaliert? Sie waren nicht einmal ausgewiesene Regimegegner, die deutsche Wiedervereinigung war überhaupt nicht ihr Thema. Alles war sie wollten, war „machen, was ich will, hingehen, wohin ich will, und reden, mit wem ich will,“ schrieb Matz Domaschk in einem Gedicht. Nicht zu jeder Unterordnung bereit, das kostet ihn seine Zukunft. Kurz vor dem Abitur vom Direktor im Auftrag der Stasi vor aller Augen aus dem Unterricht geholt und ab sofort Arbeiter im Heizungskeller – aus der Traum vom Studium der Archäologie.

Eine Unterschrift gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976, das reichte, um einen völlig absurden Überwachungsapparat in Gang zu setzen. Man kann beim Lesen kaum Schritt halten, wie viele Leute bei der Volkspolizei, der Kriminalpolizei, der Staatssicherheit, bei der Schulbehörde, bei der SED-Kreisleitung, der Reichsbahn, der Transportpolizei (das gab es auch) sich rund um die Uhr mit ein paar 19-Jährigen beschäftigten.

Überwacht und bespitzelt

Was hatten wir im Westen, auch Anfang 20, uns eigentlich dazu gedacht, als Biermann nach einem Konzert in Köln der Weg zurück versperrt wurde? Ungefähr in dieser Art: „Soll er doch hierbleiben, so viele andere wollen raus aus der DDR und dürfen nicht“. Und jetzt erfährt man, welche Katastrophe das für die damals Gleichaltrigen in der DDR bedeutete. Mit Biermann verloren sie einen, der (trotz Auftrittsverbot) ausdrückte, wonach sich so viele sehnten: frei reden, frei bewegen, sich kleiden, wie man wollte, Leute treffen, wo und wen man wollte.

Die Treffen der Clique in Jena wurden überwacht und bespitzelt, gerne auch angezeigt von Nachbarn. Dann konnte es passieren, dass Ende der 70er gleich Mannschaftswagen anrückten, alle niederknüppeln und bis zum folgenden Tag mitnehmen auf die Wache. Man konnte sich dagegen beschweren. Aber weil sie es als Gruppe tun, legt der Apparat erst richtig los. Von Stasi in Zivil direkt aus der Schule oder vom Arbeitsplatz abgeführt zum Verhör: „Welche Einstellung haben Sie zu unserem Staat?“ Welchen Mut, welchen Freiheitswillen die hatten: Auf dem Motorrad nach Prag, um dort Mitglieder der Charta 77 zu treffen; auf den Campingplatz an die polnische Ostsee, um dort alte Freunde wiederzusehen, die jetzt in Westdeutschland lebten.

Und dann der Zehnte Parteitag der SED in Berlin 1981, der um jeden Preis ohne Störung ablaufen muss, so die Weisung von ganz oben. Ausgerechnet am Tag, bevor er beginnt, am Freitag, 10. April 1981 nimmt Matz Domaschk zusammen mit seinem Kumpel Peter („Blase“) Rösch in Jena den Zug nach Berlin. Sie wollen zu einer Geburtstagsfeier, haben vor, heftig zu feiern, mit dem Parteitag haben sie nicht das Geringste zu schaffen. Die Stasi sieht das anders, sie will dort keine Langhaarigen in Parkas sehen und der Überwachungsapparat läuft zur paranoiden Hochform auf. In der Tasche, die Matz und Blase dabeihaben, könnten ja Flugblätter sein oder ein Plakat oder gar Sprengstoff. Es sind nur Schallplatten darin, die sie bei der Feier auflegen wollen, beliebt auch in der DDR: Ton, Steine, Scherben.

Verhöre zu jeder Tages- und Nachtzeit

Aber die beiden sollen Berlin auf keinen Fall erreichen, werden in Jüterbog aus dem Zug geholt und festgenommen, zur „Klärung des Sachverhalts“ (schon wieder so ein elender Ausdruck). Zwei Frauen, die man flüchtig kennt, grüßen die beiden auf dem Bahnsteig – das reicht schon, die beiden 18-jährigen werden gleich mit einkassiert. Dann stundenlanger Transport im Barkas B1000 zur Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera, 48 Stunden lang zu jeder Tages- und Nachtzeit Verhöre, untereinander Sprechverbot, ganz wenig und schlechtes Essen, und vor allem – kein Schlaf. In den Verhören durch eigens bestellte Spezialisten gewinnt Matz den Eindruck: Die wissen sowieso schon alles, seine Reisen in die CSSR und nach Polen, seine Kontakte in den Westen, der Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung – da kommen leicht zehn, fünfzehn Jahre Haft zusammen. Es sei denn, man kooperiert. Völlig zermürbt, nicht mehr Herr seiner Sinne, seit zwei Tagen schlaflos unterschreibt Matz die IM-Verpflichtung, ab sofort seine Kumpels zu bespitzeln, und erhängt sich nur Stunden später in seiner Zelle im Stasi-Gefängnis. Das Alles erzählt das Buch „Jena-Paradies“ Tag für Tag, Stunde für Stunde, auf den Ort und teils auf die Minute genau. Viele Rückblenden geben einen Blick frei in den Unterdrückungsapparat der DDR, wie man ihn als Wessi immer noch nicht verstanden hatte. Und auch wenn das Wort hier vollkommen unpassend ist: Es liest sich spannend wie ein Krimi.

160 Zeitzeugen, 60.000 Seiten MfS- und andere Akten hat der Autor Peter Wensierski studiert, mit 30 ehemaligen Stasi-Mitarbeitern, mit vielen Zeitgenossen und Freunden aus der damaligen Zeit gesprochen. Es ist ein sehr, sehr gutes Buch daraus geworden. Eigentlich gehört es in den Schulunterricht der Oberstufe – jedenfalls im Westen Deutschlands. So also geht Diktatur. Als Erich Mielke über den Tod von Matthias Domaschk informiert wurde, meinte er: „Wenn sich Feinde selber richten, haben Genossen keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen.“ Matz starb mit 23, er wäre heute so alt wie ich.

Peter Wensierski: Jena-Paradies – Die letzte Reise des Matthias Domaschk, Ch.Links Verlag 2023, ISBN 978-3-96289-186-2, 368 Seiten, 25 Euro

Blick ins Buch: aufbau-verlage.de/bic/media

Gespräch mit dem Autor Peter Wensierski: aufbau-verlage.de/ch-links-verlag

Interview in Deutschlandfunk Kultur: deutschlandfunkkultur.de/jena-paradies

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert