Der Weg von Abrahams Sohn
Die Gedenktafeln für die Opfer des Holocaust in Sterbfritz im Vogelsberg, den Club für US-Soldaten im fränkischen Ansbach, die Holocaust Survivors Group Southern Nevada in Las Vegas: Ohne Henry D. Schuster, den jüdischen Jungen aus einem hessischen Dorf, hätte es sie nicht gegeben.
Ein feiner Club
Im Juli 1946 zeichnet die US-Militärzeitschrift „Stars and Stripes“ Oberfeldwebel Henry D. Schuster vom 42. Hauptquartiergeschwader der US-Armee als „Soldat der Woche“ aus. Da ist der GI wenig älter als 20 Jahre. Die Ehrung erhält er, weil es „Kraut“, wie er von seinen Kameraden genannt wird, gelang, eine ehemalige Viehhalle in einen Klub für die im fränkischen Ansbach (etwa 60 Kilometer von Nürnberg entfernt) stationierten US-Soldaten des Luftwaffenstützpunkts auszubauen.
„Jetzt haben wir einen feinen Club, lasst ihn zu einem Veranstaltungsort für ganz Bayern werden“, heißt es in der Mitteilung aus dem Hauptquartier des Ansbach Air DPCT, APO 231, US Army, vom 17. Juli 1946. „Es war ein grandioser Erfolg. Das Orchester war exzellent und die Show einfach top.“ Dass am Abend zuvor der EM-Club (EM – enlisted men – Unteroffiziere) eröffnet werden konnte, war Sergeant Henry D. Schuster zu verdanken. Schuster, der sich 1944 im Alter von 18 Jahren freiwillig für den Dienst in der US-Armee gemeldet hatte, war es dank seines handwerklichen Geschicks, vor allem aber seiner Deutschkenntnisse gelungen, in nur wenigen Wochen aus einer ehemaligen Viehhalle einen repräsentablen Klub zu machen. Einen Klub, in dem es nicht nur zwei Bars, sondern auch eine „Arena“ für Tanzpartys, Basketballspiele oder Boxveranstaltungen gab. „Der Soldatenklub war so erfolgreich, dass am Wochenende US-Militärpersonal und ihre Frauen aus dem weit entfernten München kamen, um unsere Shows zu genießen“, schreibt Henry D. Schuster in seiner Biografie.*
Bierkrüge aus Belgien, Heizkörper aus Holland
Zwar hatte es zuvor schon auf dem Kasernengelände einen Freizeittreff für die Soldaten gegeben, doch dieser war dringend renovierungsbedürftig. Den Auftrag, neue Tische und Stühle zu besorgen, erteilte Oberstabsfeldwebel Slyback dem jungen GI, den seine Kameraden „Kraut“ oder auch „Schus“ nannten. Doch der ließ das Mobiliar erneuern oder reparieren – und hatte fortan bei seinen Vorgesetzten einen Stein im Brett. Zumal der Treff immer beliebter, und es in diesem immer enger wurde. So erhielt „Schus“ den Auftrag, eine neue Örtlichkeit zu suchen. Er fand sie mit Hilfe des Ansbacher Bürgermeisters: Eine Halle die einst für Viehauktionen genutzt worden war. Sein Entschluss: Die Tribüne muss weg, ein neuer Boden her. „Jeder dachte, es wäre zu schwierig, sie in einen Klub umzuwandeln“, schreibt Schuster. Doch: „Mein Geheimnis war, die richtigen Leute zu kennen.“
So verpflichtete er einen ortsansässigen Schreiner als Bauleiter und mit dessen Hilfe Klempner, Elektriker, Tischler. 30 Handwerker erstellten schließlich in nur dreieinhalb Monaten den neuen Treff mit Plätzen für bis zu 800 Personen. Dabei hatten sie eine Reihe von Misslichkeiten zu bewältigen. So musste das Holz aus einer Sägemühle in der Nähe von Ansbach, das für den Boden vorgesehen war, zunächst getrocknet werden. Nach tagelangen Regenfällen im Frühjahr 46 war es völlig durchnässt. Doch der findige Soldat löste das Problem. Er orderte bei seinem Quartiermeister mobile Heizkörper. Der Klub konnte am 16. Juli 1946 eröffnet werden.
Kein Zutritt für Frauen ohne Begleitung
Ein Klub mit streng zu befolgenden Regeln, die einen Tag später vom Hauptquartier des Stützpunkts ausgegeben wurden. An erster Stelle der neun Punkte-Liste: Es wird kein harter Alkohol serviert. Und weiter: Auf keinen Fall wird jemand der Einlass gewährt, der den geringsten Eindruck von Trunkenheit macht. Frauen ohne Begleitung haben keinen Zutritt. Auf der Tanzfläche darf nicht geraucht werden. Zärtlichkeiten an den Tischen sind verboten. Wer dennoch sein Mädchen umarmt oder dieses seinen Begleiter (außer auf der Tanzfläche) hat den Treff zu verlassen.
Was erlaubt war: Cola und Bier mit 3,2 Prozent Alkohol, die an den beiden Enden der „Arena“ serviert wurden. Das Bier in Krügen, die „Kraut“ aus Belgien besorgt hatte. An Wochentagen spielte eine deutsche Band und „samstags abends soll die Bude wirklich wackeln, da eine GI-Band abwechselnd mit einer Zivilkapelle spielen wird“, wie noch vor der Öffnung in „Stars and Stripes“ zu lesen war. Neben dem Ausschank an den beiden Bars servierten deutsche Kellnerinnen den Gästen die Getränke auch am Tisch von 18 bis 22.30 Uhr. „Seine Fähigkeit, Probleme bei der Beschaffung von Baustoffen und Arbeitskräften zu überwinden, bewies dem Ausschuss des Soldatenklubs etwas, was wir allerdings schon wussten – Sergeant Schuster hat das Knowhow für den Job.“ Und so bekam Oberfeldwebel Henry D. Schuster von „Stars and Stripes“ den Titel „Soldat der Woche“ verliehen.
Ein jüdischer Bub aus der hessischen Provinz
Doch wer war Henry D. Schuster? Woher kam er, dass er so gut Deutsch sprach? Henry D. Schuster wurde am 18. März 1926 als drittes Kind der Eheleute Abraham und Rosa Schuster Sterbfritz (heute ein Ortsteil von Sinntal im hessischen Main-Kinzig-Kreis) als Heinz Dittmar Schuster geboren. „Sein Vater war ein angesehener Textil- und Möbelhändler“, berichtet Ernst Müller-Marschhausen. Der pensionierte Schulamtsleiter (77) kannte das Haus der Schusters in der Schlüchterner Straße 10 gut. „Es hatte damals schon ein Bad und eine Toilette im Haus.“ Die Schusters gehörten zu den rund 100 Juden in dem 1200-Einwohner-Ort. Ihre Lebensverhältnisse änderten sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten dramatisch.
Auch der junge Heinz wurde zur Zielscheibe von Spott und Gehässigkeiten. Als die Drangsal immer ärger wurde – Schulkameraden stießen den Nichtschwimmer in ein Schwimmbecken, hängten ihn kopfüber an einen Baum – beschloss seine Mutter, ihn aus dem Dorf nach Frankfurt in ein jüdisches Waisenhaus zu bringen. Sein Vater war 1935 verstorben. Von dort kam der Sterbfritzer Junge mit einem Kinder-Flüchtlingstransport in ein französisches Kinderheim, schließlich über Portugal 1941 zu Verwandten in die USA. Im September 1943 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. „Henry war noch bis Kriegsende überzeugt, dass er seine Mutter und seine beiden Schwestern wiedersehen würde“, erinnert sich Ernst Müller-Marschhausen. Doch dann erfuhr er die traurige Wahrheit: Seine Mutter Rosa und seine Schwester Margot waren von den Nationalsozialisten nach Estland verschleppt und erschossen worden. Schwester Bertel überlebte die Qualen im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die Geschwister sahen sich nach Kriegsende wieder.
Gedenktafeln für die ermorden Juden in seinem Heimatort
Zurück aus Ansbach ehelichte Schuster 1948 im Temple Zion in New York seine Frau Anita, mit der bis zu seinem Tod im Jahr 2014 über 60 Jahre verheiratet war. Eine Reise der beiden zur Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem brachte einen großen Einschnitt in ihrem Leben. Als sie dort die Namen von Rosa und Margot Schuster lasen, reifte in Henry D. Schuster der Entschluss, sich für das Gedenken der Sterbfritzer Juden einzusetzen, die ebenfalls Opfer des NS-Regimes geworden waren. Sieben Jahre später, am 21. März 2004, reiste er mit einer Delegation von 22 amerikanischen Juden in seinen Heimatort, darunter auch seine beiden Söhne und seine drei Enkel. Ein bewegender Tag auch für Ernst Müller-Marschhausen, der seinen amerikanischen Freund in seinem Anliegen unterstützt hatte. Heute ist vor der Evangelischen Kirche eine Tafel mit den Namen seiner jüdischen Mitbürger eingelassen. Auf dem Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs sind die Namen der im Krieg getöteten Juden markiert. Und auf dem Jüdischen Friedhof im benachbarten Altengronau, auf dem auch Henrys Vater beigesetzt ist, die der 33 Männer und Frauen, die in Konzentrationslagern starben.
„Menschen of the Month“
In seiner neuen Heimat Las Vegas wurde der jüdische Bub aus dem Hessischen Dorf, das Flüchtlingskind aus einem französischen Waisenhaus, der junge US-Sergeant noch einmal geehrt. Am 10. Juni 2005 der „Jewish Reporter Las Vegas“ ihm und seiner Frau für ihre Verdienste um die Überlebenden des Holocaust in Southern Nevada die Auszeichnung „Menschen of the Month“.
Ernst-Müller Marschhausen, in dessen Haus die Schusters öfter Gäste waren, sagt über die Biografie „Von Sterbfritz nach Las Vegas“ (Der Originaltitel: „Abraham‘s Son – The Making of an American“) , in der der über 80jährige seine Erinnerungen aufgezeichnet hat. „Es ist keine Abrechnung, sondern ein Geschichtsbuch.“
Eine unerfüllte Jugendliebe
Ein Geschichtsbuch, in dem Henry D. Schuster neben den vielen Schicksalsschlägen, die er erlebt, auch Anekdoten beschreibt. So sorgten er und ein Kamerad dafür, dass sie unter der Plattform (Tanzfläche) im neuen Ansbacher Klub einen gemütlichen Raum für sich hatten, „nicht nur das, sondern auch ein Badezimmer mit Toilette, die aus der ehemaligen Viehhalle stammte und wiederverwendet werden konnte.“ Und erinnert sich an eine Jugendliebe aus dem Fränkischen. Ein Mädchen namens Erna. „Ich schäme mich dafür, wie ich sie behandelte“, resümiert er. Denn so sehr er sie, die „nicht nur hübsch, sondern auch gutmütig und großherzig war“, mochte und schätzte: Eine Ehe mit einer Nicht-Jüdin war für Schuster ausgeschlossen. „Das wäre fast gewesen, als ob Hitler gewonnen hätte.“
*„Von Sterbfritz nach Las Vegas“, CoCon-Verlag, Hanau 2011, 213 Seiten, 14,80 Euro