Gerhard Dambmann

Als Mao starb

Von Michael Schlag

Als Maos Tod bekannt wurde, „fiel China in eine Starre, im Fernsehen nur noch Trauergeschichten, die Geschäfte geschlossen, Restaurants geschlossen, Todesstille“, Berichtet Gerhard Dambmann. Das war am 9. September 1976. Dambmann, damals Ostasien-Korrepondent des ZDF, drehte gerade in Daqing in China.

Dambmann drehte gerade im Schweinestall

Gerhard Dambmann. (Foto: Michael Schlag)

Der 9. September 1976 begann für das Fernsehteam vom ZDF in einem Schweinestall. „Wir hatten einen Film in Arbeit über die chinesische Erdölindustrie in Daqing, im Nord-Osten Chinas“, berichtet Gerhard Dambmann, damals Ostasien-Korrespondent des ZDF mit Sitz in Tokyo. Neben den Bohrtürmen und Öllagern bestand eine Siedlung für die Ölarbeiter und ihre Familien. In den Gärten bauten sie Gemüse an, sie hielten auch Schweine und „die Schweinezucht haben wir natürlich auch gedreht“, die Selbstversorgung der Ölarbeiter gehörte zum Thema. Und dann begann, was sich „fest in mein Gedächtnis eingebrannt hat“, so berichtet es Dambmann: Gegen zehn Uhr am Morgen ging die Tür zum Schweinestall auf und ein Herr mit ganz offenbar höherer Stellung kam herein. Er trug eine bessere Uniform als die anderen, aus feinerem Stoff, „und sein Jackett hatte vier Taschen, die ordinären Uniformen hatten nur zwei Taschen“. Dieser Herr sprach nur einen Satz: „Ich muss Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass unser großer Vorsitzender Mao Tsetung heute Nacht verstorben ist.“ Drehte sich um, verschwand wieder und ließ die Fernsehleute ratlos zurück, erinnert sich Dambmann, denn „ich kann ja nicht Schweinezucht drehen, wenn der Mao gestorben ist.“ Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Als Maos Tod bekannt wurde, „fiel China in eine Starre, im Fernsehen nur noch Trauergeschichten, die Geschäfte geschlossen, Restaurants geschlossen, Todesstille“, erzählt Dambmann „und die Entscheidung, wie es nun weitergeht mit uns, fiel natürlich nicht in Daqing am Ölfeld, sondern in Peking im Fernsehministerium.“ Was von den chinesischen Dolmetschern aber zu erfahren war: Zu den anstehenden Trauerfeiern sollten keine ausländischen Delegationen empfangen werden und es würden auch keine fremden Journalisten ins Land gelassen. Und damit begann das Reporterglück des Korrespondenten, denn „wir wollten ja nicht ins Land, wir waren ja schon da“.

Alle wollen den toten Mao sehen

Am nächsten Morgen Rückflug nach Peking, dort wurden sie im Peking Hotel einquartiert, dem größten Hotel für Ausländer mitten im Zentrum. Kameramann Hermann Engel und Tonmann Jürgen Falter bekamen zwei Zimmer mit Blick auf die Stadt und der Korrespondent ein Zimmer mit Blick auf die Chang‘an, die Prachtstraße in Peking. Am Tag darauf fragten die chinesischen Pressebegleiter, ob sie Mao noch einmal sehen und ihm die Ehre erweisen wollten. „Ja, natürlich wollten wir das.“ Am Platz des Himmlischen Friedens ein Riesenbetrieb, Schlangen von Funktionären, die alle den toten Mao sehen wollten. Zuerst aber mussten alle drei in einem Laden für Ausländer eine schwarze Krawatte kaufen und anlegen. Dann wurde das Team durch einen hinteren Eingang geführt, erinnert sich Dambmann, „wir wurden in die Schlange geschoben und da lag in einem gläsernen Sarg ein relativ kleiner, völlig verbrauchter alter Mann, bei dem man merkte, ihm sind einfach am Schluss die Kräfte ausgegangen“.

Zur offiziellen Trauerfeier am darauffolgenden Tag sollten eine Million Menschen kommen und den Fernsehleuten wurde angeraten, im Hotel zu bleiben. Dambmann erinnert sich, wie er am nächsten Morgen gegen sieben Uhr früh ein leichtes Trappeln hörte und ans Fenster ging. „Da war die Paradestraße Chang’an schwarz mit Chinesen, die alle zum Tian’anmen-Platz wollten, wo die große Trauerfeier stattfand.“ Alles verlief ganz leise, ohne Aufregung und war über Nacht perfekt vorbereitet worden, wie Gerhard Dambmann noch heute mit Respekt berichtet. Auf der Hauptstraße waren lange weiße Linien gezogen, in kurzen Abständen von Querlinien gekreuzt, sodass Quadrate entstanden, die fortlaufend nummeriert waren. So fanden eine Million Menschen ihren Platz bis zum Tian’anmen-Platz. Oben auf dem Tor des Himmlischen Friedens nahm die Prominenz Aufstellung, schätzungsweise 15 hohe Funktionäre, angeführt von Jiang Qing, der Witwe von Mao. „Sie war die radikalste unter all den Politikern, von der man wusste oder ahnen konnte, dass sie natürlich versuchen würde, jetzt die Macht zu erobern.“ Außerdem dort oben: Die acht Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei sowie einige Provinzfürsten der Partei, von denen man wusste, dass sie zur Mao-Witwe Jiang Qing tendierten. „Im Volksmund hießen sie hinter vorgehaltener Hand die Viererbande.“ Die ganze Trauerfeier sei ruhig und ohne Musik abgelaufen, nur zum Ende wurde nach den Trauerreden die Nationalhymne gespielt. Und dann erinnert sich Dambmann an eine plötzlich aufkommende Dunstschicht über der Masse von Menschen. Was geschehen war? „Die Chinesen sind starke Raucher und jetzt stellen Sie sich mal vor, wenn nach vier, fünf Stunden eine Veranstaltung zu Ende ist und einige 100.000 Zigaretten angesteckt werden – und zwar alle im selben Augenblick“. Und dann marschierten alle ruhig ab „und nachmittags war der Tian’anmen-Platz so ruhig und leer, wie er normalerweise immer war.

Die Viererbande ausgelöscht

Alles erlebt und natürlich gefilmt vom Hotel aus. Am Morgen des folgenden Tages lag dann im Frühstücksraum die Pekinger Volkszeitung aus, die Parteizeitung. Auf der Titelseite ein Foto der ganzen Prominenz von 15 hochrangigen Militärs und Politikern bei der Trauerfeier auf dem Tian’anmen-Tor. Aber auf was es bei dem Foto wirklich ankam: „An vier Stellen waren Personen ausgelöscht, einfach mit weißer Farbe übermalt, und jeder konnte sehen – hier sind vier verschwunden in der Nacht.“ Das war die Viererbande um Maos Witwe „und ohne, dass jemand etwas erklärt hat, war klar, Deng Xiaoping hatte in der Nacht die vier Radikalen verhaften lassen.“ Über alles Weitere habe die Parteizeitung später nur in kurzen Meldungen informiert: Verhaftet wegen Hochverrat, in Gerichtsverhandlungen alle vier zum Tode verurteilt, später auf lebenslang begnadigt „und man hat nie mehr etwas von ihnen gehört.“

So konnte jeder, der zwischen den Zeilen lesen konnte, am Morgen nach der Trauerfeier erkennen: Die Reformer hatten sich durchgesetzt, Deng Xiaoping war an der Macht, „und erwies sich als der wichtigste Reformer, den die Chinesen seitdem hatten“, sagt Dambmann. Deng Xiaoping verkündete bald sein neues Regierungsprogramm, „es bestand aus nur fünf Worten: Reich werden ist keine Schande“. Auch hier musste man die Tragweite zwischen den Worten zu lesen wissen: „Man darf Geschäfte machen, es war die Öffnung Chinas zum Kapitalismus.“ Auch im chinesischen Fernsehen zeigten sich bahnbrechende Änderungen an kleinen Details, die nicht weiter erklärt wurden. Wenn der Nachrichtensprecher eines Abends nicht die Mao-Uniform trägt, sondern Jackett und Krawatte, war jedem klar: „Ihr dürft jetzt westliche Mode tragen.“

Fasziniert vom wirtschaftlichen Aufschwung Chinas

Bis heute ist Gerhard Dambmann fasziniert vom wirtschaftlichen Aufschwung, der nach Maos Tod einsetzte. Mitte der 1970er Jahre gab es in China – mit wenigen Ausnahmen – keine privat zugelassenen Autos. Die alten Modelle, die man auf den Straßen sah, gehörten der Armee, staatlichen Betrieben oder den Parteiorganisationen. Heute ist China der größte Absatzmarkt der deutschen Autohersteller, die dort eigene Fabriken betreiben. Für Dambmann ein Beleg, „wie unglaublich schnell die Chinesen die These von Deng Xiaoping – reich werden ist keine Schande – in die Wirklichkeit umgesetzt haben“. Ein zweites Beispiel: Mitte der 70er Jahre gab es noch keine Möglichkeit, von der chinesischen Hauptstadt aus direkt nach Deutschland zu telefonieren. „Das ist für Journalisten natürlich bitter, wenn sie irgendwo sind, wo richtig Geschichte gemacht wird, aber Sie können es nicht vermitteln“. Und dann, zehn Jahre später, wieder in China, in der abgelegenen Provinz Sichuan. Jetzt steht im Hotelzimmer ein Telefon und Dambmann erinnert sich, dass er es zunächst für eine Attrappe hielt. Er wählte dann aber mehr aus Neugier die Vorwahl von Deutschland, die Vorwahl von Mainz und seine eigene Telefonnummer. Es summte zwei, drei Mal, dann war seine Frau am Telefon. „Deutlicher kann man das gar nicht empfinden, wie unglaublich schnell sich China damals entwickelt hat.“

Aber wie war es denn nun, Anfang September 1976, als die chinesischen Pressebetreuer dem ZDF-Korrespondenten ein Zimmer mit Blick über die Prachtstraße zuwiesen, war es Zufall, Nachlässigkeit oder Absicht? Gerhard Dambmann meint heute, es war Absicht. Die Chinesen hätten das Team ja nach Tokyo zurückschicken oder in der Provinz lassen können, aber mit dem Peking Hotel „gaben sie uns einen Logenplatz.“

Gerhard Dambmann, Dr. jur., wurde 1927 in Schotten/Vogelberg geboren. Nach Stationen beim Hörfunk gehörte er 1963 zur Gründungsmannschaft des ZDF. Von 1969 bis 1981 war er Ostasienkorrespondent des ZDF zunächst mit Sitz in Hongkong, dann in Tokyo. Zurück in Mainz betreute er internationale Dokumentationen wie „Die Seidenstraße“. Dambmann beschloss seine Karriere als Professor für TV-Journalismus am Journalistischen Seminar der Universität Mainz. Er lebt in Mainz und hält regelmäßig Vorträge zu Themen, die er als Zeitzeuge und Berichterstatter erlebte.

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