Friedrich Ludwig Weidig

Der verkannte Revolutionär

von Bruno Rieb

Der Hessische Landbote ist als Werk Georg Büchners in die Literaturgeschichte eingegangen. Der Butzbacher Theologe Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837) gilt als der, der Büchners revolutionäres Kampfblatt entschärft hat. Aber: ohne Weidig wäre der Hessische Landbote nicht veröffentlicht worden. Der Studentenführer Rudi Dutschke kam 140 Jahre später zu dem Schluss, Weidig, nicht Büchner, sei „der progressivste Denker“ gewesen.

Ein alter Burschenschaftler

Im „Lexikon Linker Leitfiguren“, 1989 von der Büchergilde herausgegeben, hat Weidig keinen eigenen Eintrag. Nach „Wehner, Herbert“, folgt dort „Weiss, Peter“. Weidig taucht nur unter Büchner auf, dem das Lexikon gleich zwei Seiten widmet. Büchner habe 1834 in Gießen „die an französischen Vorbildern orientierte Gesellschaft der Menschenrechte“ gegründet und sich bemüht, „zusammen mit dem auch in den Frankfurter Wachensturm verwickelten Rektor Friedrich Ludwig Weidig die verschiedenen Richtungen der oberhessischen Opposition auf einen gemeinschaftlichen Nenner zu vereinen. Büchner habe im März 1834 im Auftrag dieser Gruppe die „sozialrevolutionäre Flugschrift ‚Der hessische Landbote‘“ verfasst. Weidig habe „die vermutlich an der frühkommunistischen Theorie Blanquis geschulte Flugschrift im Sommer 1834 in gemäßigterer Form“ veröffentlicht.

Kreidelithographie von 1848/49

Auch in der Geschichtsschreibung der DDR taucht Weidig nur am Rande auf und auch dort als der, der Büchners Revolutionäres Werk verstümmelte. Die Richtung hatte Franz Mehring vorgegeben. Der Historiker der Deutschen Arbeiterbewegung hatte 1898 in seiner „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ geschrieben: „Führer der hessischen Liberalen war der Rektor Weidig in Butzbach, ein alter Burschenschaftler der christlichgermanischen Richtung, ein Schwärmer für Kaiser und Reich und ein Hasser der Französischen Revolution, aber ein fester Charakter von starkem Rechtssinn“. Büchners Flugblatt „Der Hessische Landbote“ „ist von Weidig, der über die geheime Druckerei in Offenbach verfügte, arg verstümmelt und durch biblische Kraftstellen entstellt worden. Aber auch so noch sprüht er wie ein dichter Funkenregen aus dem Brande der großen französischen Revolution.“

Stark geprägte Einzelgänger

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bemühte sich, Weidig zu rehabilitieren. „Seine Autorenschaft am Hessischen Landboten hat er mit seiner Freiheit und seinem Leben bezahlt. Nur deutschen Akademikern hat es einfallen können, sie zu schmähen“, schreibt Enzensberger 1965 in dem von ihm in der Sammlung Insel herausgegebenen Band „Georg Büchner, Ludwig Weidig, Der Hessische Landbote – Texte, Briefe-Prozessakten“. Und: „Eine illegale Flugschrift braucht nicht nur einen Verfasser, sie muss auch gedruckt und verbreitet werden. Dazu gehört ein Apparat. Wer diesen Apparat aufbaut, läuft Risiken, er bringt sich in größere Gefahr als der Autor; und zwar umso mehr, je exponierter seine Stellung ist.“

Der Student Büchner konnte ins Ausland fliehen, während der Beamte und Familienvater Weidig im Kerker landete und bald unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen sein Leben ließ. Weidig wie Büchner waren laut Enzensberger „stark geprägte Einzelgänger, politische Selbstdenker, die, jeder für sich, ihre eigene politische Strategie und Taktik entwickelten. Weidig sei „nach seinem Herkommen und seinen Überzeugungen, ein christlicher Patriot“ gewesen, der an ein Volkskaisertum glaubte und sich einen ständischen deutschen Einheitsstaat wünschte, in dem es gerecht zugehen sollte. Enzensberger: „Weidigs politische Strategie zielte auf eine große Koalition gegen die fürstlichen Machthaber ab; Erfolg versprach er sich allein von einem breiten Zweckbündnis der verschiedenen Fraktionen gegen den gemeinsamen Gegner.“ Büchner dagegen habe erkannt, dass hinter jeder politischen eine soziale Frage stand, und auf diese Frage habe er nur eine Antwort gesehen: die gewaltsame Veränderung der Besitzverhältnisse.

Weidigs Heimatstadt Butzbach steht zu ihrem streitbaren Theologen. (Foto: Rieb)

Der Landbote hat Enzensberger zufolge zwei Autoren, deren Anteile sich nicht genau scheiden lassen, deren Differenzen sich in der Schrift aber spiegeln: „Ihr Grundbestand gehört Büchner an; Weidig hat sie gründlich revidiert, mit Änderungen im Detail und mit einem neuen Schluss versehen. Er hat die Polemik gegen das liberale Besitzbürgertum gestrichen, dagegen die Attacken gegen die Aristokratie, den Hof und die Bürokratie womöglich verschärft.“ Weidig sei schließlich der Titel zu verdanken, unter dem die Flugschrift in die deutsche Literatur eingegangen ist. „Nach alledem mutet es ein wenig seltsam an, wenn die Gebildeten unter ihren Lesern sie einzig und allein Büchner zuschreiben und Weidig als einen lästigen Pfuscher von ihrem Titelblatt verscheuchen wollen“, klagt Enzensberger.

Der Studentenführer Rudi Dutschke (1940 – 1979), der einer von denen war, „die ihre Haut hinhalten, um ihre Wahrheiten zu beweisen“ (Helmuth Gollwitzer), und der damit Weidig ähnelte, schrieb in einer Randbemerkung in Enzensbergers Buch über den Konflikt zwischen Weidig und Büchner: „Insofern ist Weidig nicht Büchner der progressivste Denker, wie idealistisch auch immer…. Büchner ist Vulgärmaterialist, fortschrittlich regressiv!“

Die Anmerkung, die Rudi Dutschke 1974 in Hans Magnus Enzensbergers Buch „Der Hessische Landbote“ machte. (Bidquelle ist der Ausstellungskatalog „Georg Bücher – Revolutionär mit Feder und Skalpell“)

Enzensbergers Engagement für Weidig half nicht viel. Ein Jahr nach seinem Plädoyer für den Butzbacher Theologen ist eine Neuauflage des Romans von Kasimir Edschmid über den Hessischen Landboten erschienen. Darin geht es mindestens soviel um Weidig wie um Büchner. Die Erstausgabe von 1950 trug noch den Titel „Wenn es Rosen sind, werden sie blühen“. Die Neuauflage hieß nun „Georg Büchner“. Unter diesem Titel ließ sich der lesenswerte Roman besser verkaufen.

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